Endzeit
beten, zusammen mit Tausenden anderen, während wir auf die Herrlichkeit warten, die uns zuteil werden wird.«
Warum tragen so viele Autos christliche Aufkleber? Als sich die Kamera von ihm wegbewegt und wir sehen, wo Leonard Krall steht, sagt Frazer Melville leise: »Oh Scheiße.«
Was die Sache recht gut zusammenfasst.
Ich wende mich vom Bildschirm ab und kneife die Augen zu. Das kann nicht sein.
Aber es ist wahr.
Man hat das Olympiastadion in ein riesiges, improvisiertes Gebetszentrum verwandelt.
Ich drehe mich um. Bethany schläft noch. Hat sie das alles gewusst? Hat sie es herbeigeführt?
»Lass sie. Es ist egal. Wir suchen uns einen anderen Ort«, sagt Frazer Melville. »Schnell. Ruf Ned an und sag es ihm.«
|357| Panisch tippe ich die Nummer ein. Keine Verbindung. Ich versuche es noch einmal. Und noch mal. Die Leitung ist blockiert.
»Falls die Regierung den Notstand ausgerufen hat, sind die Leitungen vermutlich zusammengebrochen«, sagt Frazer Melville. Er hat meine Panik bemerkt, teilt sie vielleicht, verbirgt es aber gut.
Mit grausamer Präzision springt in mir ein Stöpsel heraus, und alle Hoffnung verschwindet gurgelnd im Abfluss.
Eine winzige braune Spinne huscht über das Armaturenbrett. Als kleines Kind habe ich solche Wesen manchmal aus Langeweile, Sadismus und Neugier zerquetscht. Während ich ihr mit den Augen auf ihrem Weg zum Gebläse folge und die vielen Möglichkeiten bedenke, wie ich den Verlauf ihres winzigen, unbewussten Lebens verändern könnte, wird mir mein ungeheuerlicher Irrtum klar. Ich habe geglaubt, die Not der Erde sei eine Strafe für die modernen Menschen, die mit ihrem Streben gegen ein unsichtbares ethisches Prinzip verstoßen haben. Doch die Natur ist weder gut und mütterlich noch strafend oder rachsüchtig. Sie segnet und pflegt nicht. Sie ist gleichgültig. Womit wir ebenso entbehrlich sind wie der Dodo oder der Eisbär.
»Noch ein Kilometer bis zum Ziel«, verkündet das Navi.
»Hast du gewusst, dass dein Vater im Stadion sein würde?«, frage ich so ruhig wie möglich, als Bethany aufwacht. Ihr Gesicht ist schweißbedeckt. Trotz des großen blauen Flecks und der gefesselten Handgelenke wirkt sie seltsam gelassen, als hätte sie nicht Minuten, sondern viele Stunden geschlafen. Sie atmet tief ein und aus, als hätte sie unterwegs erfolgreich Yoga gelernt.
»Klar doch«, sagt sie lächelnd. Ihre Stimme klingt gemessen, fast nachdenklich. »Zusammen mit Tausenden anderen Menschen. Alle rechnen mit der Entrückung. Das habe ich gesehen.«
Eine Welle des Zorns durchflutet mich. Frazer Melville fährt mit rotem Gesicht herum. »Du hast uns also mit voller Absicht an den schlimmsten nur denkbaren Ort geführt!«, brüllt er. »Wir |358| können den Plan nicht mehr ändern, weil wir Ned nicht erreichen können!« Er schlägt mit der Hand aufs Lenkrad.
»Der Hubschrauber wird dort landen«, sage ich leise. Mein Mund ist trocken; ich muss die Worte an meiner Zunge vorbeischieben. »Mittendrin. Uns bleibt nichts anderes übrig, als hinzugehen. Hast du das auch gesehen, Bethany?«
Sie lächelt liebreizend. »Yo. In die Höhle des Löwen.«
Ich erinnere mich an die fatale Begegnung mit Reverend Leonard Krall. Paranoia wuchert so zügellos wie manche Kristalle. Im Nu ist ein neuer Teil gesprossen.
Sie werden manipuliert, Ms. Fox,
hat er gesagt
. Und merken es nicht einmal.
»Hey, da ist es ja!«, schreit Bethany und zeigt nach vorn. Ihr Gesicht leuchtet vor Aufregung. Sie wirkt beinahe unschuldig. »Christus der Heiland stieg zu uns hernieder! Halleluja, verdammt noch mal!«
Ich starre hin.
Es sieht aus wie eine Fata Morgana.
Die kolossale Zikkurat ragt auf der von Menschen geschaffenen Insel empor. Die glänzende, geneigte Klippe der Außenwand lässt die Menschen, die sich in Massen über die Fußgängerbrücken hineindrängen, als würden sie durch die poröse Haut nach innen gesaugt, wie Zwerge erscheinen.
Wir sind da.
|359| 16
Ich hatte die epischen Ausmaße des Stadions vergessen, seine Mischung aus Sachlichkeit und Größe, die scheinbar unendliche Aufnahmefähigkeit. Ein Stadion ist eine leere Hülle, die mit menschlichem Fleisch gefüllt werden muss, damit sie zum Leben erwacht. Es war unter anderem diese komplexe, zwingende Dynamik, die mich aus meinem Elend riss, als ich mit einigen anderen Patienten, die wie ich an der Wirbelsäule verletzt waren und um das trauerten, was sie verloren hatten, die Paralympics im Fernsehen anschaute. Ich litt
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