Endzeit
zusammen.
»Wer ist das?«, will der Physiker wissen.
»Sie verfolgt mich. Nein, war nur ein Scherz.« Ich nicke Harry beruhigend zu. »Sie soll ruhig herkommen. Aber nehmen Sie ihr bitte die Jacke ab.« Ich möchte kein Risiko eingehen. Als er zu der Frau geht, trinke ich einen großen Schluck Wein.
»Gabrielle, ich weiß nicht, was hier vorgeht, aber halten Sie das wirklich für eine gute Idee?«
»Es ist – unvermeidlich. Und ich bin froh, dass es in aller Öffentlichkeit passiert. Es dürfte interessant werden. Warten Sie ab.« Ich habe mich schon vor langer Zeit dazu gezwungen, mich dem zu stellen, was mich ängstigt. Daher fällt mir die Entscheidung leicht. Dennoch klinge ich ruhiger, als ich mich fühle.
Sie kommt mit schleppenden Schritten zu uns, und ich bemerke, dass sie jünger ist, als ich dachte. Anfang vierzig. Sie wirkt nicht bedrohlich, nur einsam und verstört. Sie zeigt auf die Zeichnung des Himmelsspringers, die noch am Gewürzständer lehnt. »Das hat Bethany gezeichnet.«
Sofort fügen sich die Dinge zusammen. Natürlich. Wer sonst sollte sie sein?
»Ja«, sage ich. »Vor zwei Wochen. Frazer Melville, das ist Joy McConey, meine Vorgängerin in Oxsmith. Sie bezieht sich auf die Patientin, die ich Kind B. genannt habe.«
Der Physiker ist zunächst verwirrt angesichts der plötzlichen Wendung, die unser Abend genommen hat, gewinnt aber schnell die Fassung wieder: Nachdem er Joy die Hand geschüttelt hat, holt er ihr einen Stuhl. Joy McConey lehnt das Angebot des Kellners, ihr ein Glas Mineralwasser zu bringen, mit einer Handbewegung ab, setzt sich, stützt die Arme auf den Tisch und beginnt in drängendem Ton zu sprechen. Ihre Augen gehen dabei in alle Richtungen. »Ich kann nicht lange bleiben, er sucht nach mir. Mein Mann«, fügt sie hastig hinzu. »Er will nicht, dass ich mit Ihnen rede. Aber Sie müssen mir zuhören. Bethany Krall ist viel gefährlicher, als Sie denken.«
|114| Sonderbar, dass sie davon ausgeht, ich würde Bethany für gefährlich halten. »Ich höre zu. Sagen Sie, was Sie zu sagen haben.«
Frazer Melville wirkt besorgt und leicht verärgert.
»Wissen Sie, warum Bethany Dinge vorhersagen kann, Gabrielle?«, fragt sie mit heller, angestrengter, fast mädchenhafter Stimme. »Darf ich Sie Gabrielle nennen, ist das nicht zu aufdringlich?« Ihr blasses Gesicht mit den Sommersprossen, das im flackernden Kerzenschein gelblich erscheint, wirkt asymmetrisch. Sie hat versucht, ihre Wimpern zu tuschen, unter einem Auge prangt ein verschmierter Fleck. »Ich meine, ich weiß, wie das aussehen muss. Sie haben ja gemerkt, dass ich Ihnen gefolgt bin. Aber ich musste Sie vor Bethany warnen.«
»Also macht Bethany tatsächlich zutreffende Vorhersagen?«, frage ich mit einem Blick auf Frazer Melville, der mit seinem Teelöffel spielt.
»Ja. Sie werden es schon sehen. Ich habe angefangen, der Sache Aufmerksamkeit zu schenken, als Osaka vor sechs Monaten von einem Wirbelsturm getroffen wurde. Sie hatte nach ihrer EKT davon gesprochen, und genauso ist es passiert. Danach passierten noch mehr Dinge.« Der Physiker schaut Joy McConey durchdringend an. »Das Erdbeben in Nepal. Dann der Hurrikan, der Sturz Christi – den hat sie auch vorausgesagt, oder? Ich meine, diese Zeichnung …«
»Ja, das behauptet sie.«
»Glauben Sie mir, es hängt alles zusammen.« Ich spüre, wie der Physiker unruhig wird, und werfe ihm einen Blick zu, der hoffentlich vermittelt:
Ganz ruhig. Auch Therapeuten haben Nervenzusammenbrüche. Öfter, als Sie denken. Wirklich.
»Ich habe Ihre Notizen zu Bethany nicht gelesen. Aber ich wüsste sehr gern, was drinsteht«, sage ich.
»Sie spürt Dinge. In Blut und Mineralien. Sie spürt, wie alles im Fluss ist.« Frazer Melville erstarrt. Ich sehe, dass Joy zittert, als wäre sie soeben an einem kalten, verschneiten Abend hereingekommen. »Ich habe Sheldon-Gray davon erzählt, aber er wollte |115| nicht auf mich hören. Keiner wollte auf mich hören. Aber ihr Vater, Leonard Krall, der weiß, wozu sie fähig ist. Ich habe versucht, die Leute zu warnen, also hat Sheldon-Gray mich rausgeworfen. Und wenn Sie nicht aufpassen, macht er mit Ihnen das Gleiche. Fragen Sie Leonard. Fragen Sie ihn, was
er
glaubt. Fragen Sie ihn, weshalb er seine eigene Tochter nicht besuchen will. Sie wird von Ihnen verlangen, ihr bei der Flucht zu helfen. Und wenn Sie sich weigern, wird sie Ihnen das Gleiche wie mir antun.«
»Entschuldigung«, unterbricht sie eine Männerstimme. Dann:
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