Endzeit
»Joy.« Er kommt rasch näher, und ich erkenne den blonden Mann mit dem schütteren Haar, mit dem sie auf dem Parkplatz des Schwimmbads gestritten hat. Er wirkt wütend und entschlossen. Aber auch beschämt. Gedemütigt. Seine Frau ist durchgedreht, und das in aller Öffentlichkeit. Er muss das Chaos beseitigen. Ich frage mich, wie oft er das schon gemacht hat. »Komm, ich bringe dich nach Hause zu den Kindern.« Er nimmt sie bei der Hand und ist offenkundig mit seinem Latein am Ende. »Es tut mir furchtbar leid«, sagt er zu mir. »Ich wollte es verhindern, das müssen Sie mir glauben. Joy ist im Augenblick nicht sie selbst.«
Sie schaut ihn verächtlich an. »Mein Mann glaubt, Frauen sollten am besten den Mund halten«, sagt sie verbittert.
»Schon gut« beruhige ich ihn. »Es interessiert mich. Bitte, Joy kann ruhig bleiben, wenn sie möchte. Ich würde gern hören, was sie zu sagen hat. Joy, was hat Bethany Ihnen Ihrer Ansicht nach angetan?«
Doch er zieht sie schon zur Tür. Dort dreht sich Joy noch einmal um.
»Begreifen Sie denn nicht, was sie tut, Gabrielle?«, ruft sie durch den Raum. »Sie sagt nicht nur Dinge voraus. Sie verursacht sie!«
Am nächsten Morgen erscheint der Physiker in einem abgetragenen Leinenjackett und mit einer Krawatte, die nicht dazu passt, in Oxsmith. Er hat einen riesigen Karton dabei, der in Packpapier |116| gewickelt und mit Klebeband verschlossen ist. Er lädt ihn ohne Umstände und Erklärungen auf meinem Schoß ab.
»Nur zu, benutzen Sie mich als Einkaufswagen«, sage ich lächelnd. »Wenn Sie fertig sind, spucke ich auch eine Münze aus. Sie müssen mich allerdings schieben, weil ich so überhaupt nichts sehen kann.«
Er schaut sich nervös in der Eingangshalle um, während ich ihn anmelde. Er befinde sich zum ersten Mal in einer Hochsicherheitsklinik, verrät er mir. Ich merke, er ist gespannt auf die Begegnung mit Bethany, aber auch voller Misstrauen.
»Es hat eher etwas von einem Krankenhaus als von einem Gefängnis, oder?«
»Meistens schon. Das kann sich allerdings schnell ändern.«
Bethany wartet im Besuchszimmer und plaudert mit einer mehrfach gepiercten Krankenschwester. Als der Physiker ihr die Hand reicht, schaut Bethany mich mit gespielter Verzweiflung an: Habe ich ihn nicht gewarnt, dass sie grundsätzlich unhöflich ist? Ich wende mich ab. Ich werde ihr nicht weiterhelfen. Schließlich seufzt sie, da er ihr beharrlich seine große Pranke hinhält, ergreift sie und schüttelt sie dreimal auf und nieder wie die Hand einer Puppe. Damit ist der Pflicht Genüge getan.
»Frazer Melville ist Wissenschaftler an der Universität«, erkläre ich.
»Fühle mich geehrt.« Das klingt aber ganz anders.
»Ich mich auch«, sagt er und nimmt den Karton von meinem Schoß. »Darum habe ich dir ein Geschenk mitgebracht.«
»Ich habe aber nicht Geburtstag«, sagt sie schroff und beäugt ihn misstrauisch. Ich sehe allerdings auch, wie sich die Neugier einen Weg durch die blasierte Maske bahnt.
»In Japan ist es Tradition, ein Geschenk mitzubringen, wenn man jemanden zum ersten Mal zu Hause besucht. Ich halte das für sehr zivilisiert und möchte diese Tradition gern übernehmen.«
Sie schnaubt. »Dann also willkommen in meinem bezaubernden Hochsicherheitstrakt. Neben der geschmackvollen Farbauswahl |117| möchte ich noch auf die bullige Lesbe neben mir hinweisen wie auch auf die Gitter an den Fenstern und den fehlenden Blick auf die Außenwelt und …« Während sie spricht, packt sie den Karton aus. Als sie hineinschaut, hält sie abrupt inne und öffnet den Mund zu einem überraschten O. Sie holt einen großen Globus aus durchscheinendem Kunststoff heraus und stellt ihn auf den Tisch. Ich sehe, wie sie mit sich ringt. Ich weiß, dass sie instinktiv etwas Positives sagen, vielleicht sogar mit einem Dankeschön herausplatzen möchte. Doch das kann sie sich nicht erlauben. Ich sehe, wie sie es unterdrückt. Es wäre gegen ihre Prinzipien, ein positives Gefühl zu äußern.
»Innen ist eine Lampe«, sagt Frazer Melville und stöpselt den Stecker ein. Die Farben leuchten auf wie die Buntglasfenster einer Kirche, aber subtiler, faszinierender und überirdischer. Noch immer schweigend stößt Bethany die Kugel ein wenig an, und wir sehen zu, wie sie langsam und elegant rotiert. Die Landmassen sind braun und grün gefärbt, während die Gewässer in einem leuchtenden Türkis erstrahlen. Die Ozeane wechseln ihre Blautöne je nach Tiefe. Ländergrenzen und Städte
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