Endzeit
als hätte man einen Himmel voller Dampf in eine riesige Waschmaschine gesteckt und ließe ihn für alle Ewigkeit darin schleudern.
|120| »Siehst du, was ich meine?« Die Ähnlichkeit mit Bethanys Sturmarabesken ist verblüffend. Wie konnte ich das nur übersehen? »Van Gogh hatte es auch mit Turbulenzen«, sagt der Physiker und betrachtet Bethany.
»Klar, große Geister denken ähnlich«, sagt sie beiläufig. Doch etwas ist noch immer sonderbar, sie wirkt irgendwie schuldbewusst, unbehaglich.
»Er hat es geradezu wissenschaftlich dargestellt, ohne es zu merken. Menschen halten Turbulenzen für etwas Zufälliges, während sie in Wirklichkeit bestimmten Gesetzen gehorchen, die für Flüssigkeiten und Gase gelten.«
Ich frage mich, worauf er hinauswill. Er scheint auf eine Reaktion von Bethany zu warten, doch es kommt keine.
»Darf ich die Zeichnungen mitnehmen? Ich würde mir gern Kopien machen.«
»Klar«, antwortet Bethany. Sie will blasiert klingen, doch die Begeisterung, mit der sie die erste Zeichnung von der Wand reißt und ihm in die Hand drückt, ist bezeichnend.
»Können Sie die auch an die Japaner verkaufen?«
Er lächelt knapp und wird wieder ernst. Sie hat ihn auf eine Weise aus der Fassung gebracht, die ich immer noch nicht ganz verstehe. Jetzt hat er es eilig und will weg. Ich auch. Es ist kurz vor drei, und ich habe eine Sitzung mit einem jugendlichen Brandstifter, der gestern eingeliefert wurde und frisch aus der Untersuchungshaft kommt. Frazer Melville verabschiedet sich mit einem verlegenen Händeschütteln von Bethany und sagt, sie solle ruhig noch mehr Zeichnungen für ihn machen. Von allem, was ihr gefalle, egal was.
»Gabrielle hat mir das Bild gezeigt, auf dem die Christusfigur in Rio herabstürzt«, sagt er zögernd. »Es hat mich beeindruckt. Hast du damals gewusst, was du da zeichnest?«
Sie zuckt mit den Schultern. »Ich kann mich nicht erinnern. Ich sehe eine Menge Zeug, aber ich weiß nicht immer, was es bedeutet.«
|121| »Du hast den Sturz Christi aber erwähnt«, sage ich.
»Kann sein.«
Ich schaue von Bethany zu dem Physiker und wieder zurück. Irgendetwas stimmt nicht.
»Sie sollte Sie nicht Roller nennen«, sagt Frazer Melville energisch, als ich mich am Empfang verabschiede. »Warum lassen Sie sich das gefallen?«
»Weil es ein Zeichen der Zuneigung ist, ob Sie’s glauben oder nicht. Und immer noch besser als Spasti. Jetzt möchte ich Ihnen aber eine Frage stellen. Was hat sie zu Ihnen gesagt?«
»Wann?«
»Als ich Sie allein gelassen habe. Sie hat etwas gesagt, das Sie getroffen hat.«
»Nein«, erwidert er und gibt sich verwirrt. »Sie sprach nur von dem Erdbeben und diesem Vulkan auf Samoa, sonst war da nichts.«
Ich hake nicht weiter nach, merke mir aber für die Zukunft, dass der Physiker ein ausgesprochen schlechter Lügner ist.
Ich bin mit Newton, einem schizophrenen Sechzehnjährigen mit Geschlechtsidentitätsstörung, im Kunstraum. Er mag Kunst. In der vergangenen Stunde hat er aus Ton flache, krokodilartige Figuren mit klaffenden Kiefern und scharfen Zähnen geformt. Wie die meisten Jugendlichen hier hat er eine gewalttätige Vorgeschichte. Letzten Monat bekam er die Eintrittskarte für Oxsmith, nachdem er gestanden hatte, seine beiden kleinen Cousinen sexuell gefoltert zu haben. Er erhält zahlreiche Medikamente, von denen seine Hände zittern. Er ist blass, hat das Haar weißblond gefärbt und schminkt sich dilettantisch – heute ist sein Mund ein blutroter Schlitz. An den Füßen trägt er riesige Flauschpantoffeln und er schwitzt ausgiebig, übelriechend und geradezu genüsslich. Es ist zehn Uhr morgens, und Newton lässt beiläufig Bethanys Globus kreisen.
»Scheiße, Hände weg.« Ich habe nicht mit ihr gerechnet. Rafik |122| begleitet sie, und Bethanys leuchtendes Gesicht verrät mir, dass sie erst kürzlich eine Dosis Elektrizität ins Hirn bekommen hat.
»Zeig uns doch mal deine Fotze, Mädchen«, sagt Newton im Plauderton. In der Jugendkultur des Oxsmith Adolescent Secure Psychiatric Hospital ist dies keine ungewöhnliche Aufforderung. Allerdings ist Newton noch nicht lange genug hier, um Bethany zu kennen. Niemand hat ihn gewarnt, dass winzig noch lange nicht harmlos bedeutet. Er taucht die Hände in einen Topf mit milchigem, nassem Ton und zieht sie triefend wieder hervor. »Schön feucht«, murmelt er. Wäre es möglich, Katastrophen zu verhindern, wenn man die Zeit anhalten könnte, oder würden trotzdem furchtbare Dinge
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