Endzeit
sind nicht eingezeichnet. Nur der Suez- und der Panamakanal wie auch die schmalen, unauffälligen Linien der Breiten- und Längengrade und der Wendekreise zeugen von der menschlichen Existenz. Es ist pure Geographie. Eine unbevölkerte Erde.
»Falls das ein blöder Witz sein soll …«, setzt Bethany an und verstummt. Zum ersten Mal tritt ihre furchtbare Verletzlichkeit offen zutage.
»Ich mache Witze«, sagt der Physiker in jovialem Ton. »Aber keine blöden. Jedenfalls nicht absichtlich. Du kannst ihn behalten.«
Wie oft bin ich in Gedanken zu jenem Augenblick zurückgekehrt. Besser gesagt, zu dem zaghaften Lächeln, das über Bethanys Gesicht huscht, während sie die Hände auf den Globus legt, ihre langen, dünnen Finger mit den abgebissenen Nägeln, und ihn wie eine Blinde abtastet. Ich muss an einen Tierarzt |118| denken, den ich einmal gesehen habe. Wie er mit geschlossenen Augen den Kopf an die Flanke eines kranken Pferdes legte und mit den Fingern drückte und horchte.
»Ich hole euch in zwanzig Minuten ab, dann gehen wir in den Kunstraum«, sage ich zu ihnen. Ich bringe das Wort Kreativwerkstatt noch immer nicht über die Lippen. Vor allem nicht in Gegenwart eines Mannes, der …
Eines Mannes, der.
Als ich zurückkomme, dreht sich der Globus langsam, beide betrachten ihn nachdenklich. Lola, die Krankenschwester, steht in der Nähe der Tür. In ihren Augen lese ich eine unergründliche Mischung aus Sorge, Beunruhigung und Mitleid, und sie deutet mit dem Kopf auf den Physiker.
»Alles in Ordnung?«, frage ich. Doch sein Gesicht sagt mir deutlich, dass etwas schiefgelaufen ist.
»Cool«, antwortet Bethany. Sie wirkt listig, vielleicht auch verschämt. Er sagt nichts, und plötzlich bemerke ich seine Sommersprossen. Sie stechen hervor wie braune Zuckersprenkel, weil die Haut darunter so blass geworden ist. Als ich ihn fragend ansehe, tut er es mit einer Handbewegung ab. Wieder will Lola mir etwas zu verstehen geben, doch ich kann ihre Gesten nicht deuten. Bethany hingegen sprüht förmlich, befindet sich in dem gefährlichen Niemandsland, in dem Energie jeden Moment in Manie umschlagen kann.
»Bethany hat mir eine Stelle gezeigt, an der in Kürze ein Vulkan ausbrechen wird, und ein Erdbeben in Istanbul vorausgesagt«, sagt der Physiker mit gezwungenem Lächeln. Doch ich spüre, dass nicht das ihn beunruhigt. Was hat sie sonst noch gesagt?
»Ein Vulkan?«
»Davon hab ich Ihnen doch erzählt, Roller«, sagt Bethany eifrig. Der Physiker wirkt schockiert, als er meinen Spitznamen hört, und sieht mich fragend an, doch ich schüttle den Kopf. »Aber ich wusste vorher nicht, wie die Insel heißt.«
|119| »Ich habe sie als Samoa identifiziert«, sagt der Physiker und hält den Globus an, bevor er auf einen Punkt im ultramarinblauen Pazifik deutet.
»4. Oktober«, sagt Bethany. »Es steht in meinem Buch. Aber jetzt können Sie auch den Namen aufschreiben.«
Lola begleitet uns in den Kunstraum. Während Frazer Melville sich Bethanys Zeichnungen anschaut, scheint er sich wieder zu fangen und gibt Sätze wie »Ich bin beeindruckt« oder »Was haben wir denn da?« von sich. Bethany läuft unterdessen wie ein Tier im Käfig auf und ab, nimmt dies und jenes in die Hand – einen Tontopf, ein paar Pinsel, einen abgenutzten Radiergummi – und fummelt daran herum, bevor sie die Sachen wieder fallen lässt. Über uns schwebt Mesut Farouks Heißluftballon wie ein gestreifter Kokon.
»Kennst du van Gogh, Bethany?«, fragt der Physiker schließlich.
»Natürlich. Die Sonnenblumen kennt doch jeder. Wurden für x Millionen an die Japaner verkauft. Er drehte durch und schnitt sich das Ohr ab, oder? Der würde sich hier richtig zu Hause fühlen.«
»Ich habe einige Kunstbücher«, sage ich und zeige auf ein Regal, das ich nicht erreichen kann. Frazer Melville holt das fragliche Buch herunter und blättert zu van Gogh. Iris. Gebückte Frauen auf einem Feld.
Selbstporträt mit verbundenem Ohr
. »Es sind vor allem drei Bilder, nach denen ich suche«, murmelt er, hält inne und deutet auf die Seite. »Das ist eines davon.«
Sternennacht
: eine halluzinogene nächtliche Landschaft, getupft mit leuchtenden Kugeln, alle umstrahlt von einer ausgeprägten Aura. Ich sehe sofort, weshalb er nach diesem Bild gesucht hat – nicht wegen der riesigen, weiß glühenden Sterne oder der Zypressen im Vordergrund oder der provenzalischen Landschaft darunter, sondern wegen der wilden Wolkenwirbel dazwischen. Es sieht aus,
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