Endzeit
wohin reiste. Als es zu Ende ging, haben wir fast nur noch per E-Mail kommuniziert. Es gab aber noch andere Gründe. Na ja. Jedenfalls
einen
anderen Grund.«
»Eine unüberbrückbare Differenz?«
Er wird rot und betrachtet eindringlich seine Spaghetti. Dann blickt er auf und lächelt. »Wie sich herausstellte, stand nicht nur ich auf weibliche Attribute.«
Es ist zu komisch, um nicht darüber zu lachen, doch dann halten wir beide inne, werden verlegen. »Sie ist also lesbisch?«
Er seufzt. »Ich nehme an, Sie haben Fallstudien darüber gelesen.« Auf mein Nicken fragt er: »Und was sagen die dazu?«
»Na ja, oft halten beide Partner die Homosexualität nur für eine Phase oder etwas, das sich bewältigen lässt. Die Liebe überwindet alles, und so weiter. Manchmal tut sie es sogar.«
|111| Er sieht mich erleichtert an. Bringt sogar ein Lachen zustande. »Nur zu, es interessiert mich.«
»Na schön. In Ihrem Fall wäre es natürlich denkbar, dass Sie einfach nur Melinas heterosexuelles Experiment waren.«
Er nickt mit einem schiefen Lächeln. »Ist das ein klassischer Fall?«
»Ehrlich gesagt ja. Tut mir leid. Und wann kam die Wende?«
»Als wir erfuhren, dass sie keine Kinder bekommen kann. Ich glaube, da hat sie die Männer völlig aufgegeben. Mich jedenfalls. Irgendwann lernte sie Agnesca kennen.«
»Und seither sind Sie vorsichtig, was neue Beziehungen angeht.«
»Das ist stark untertrieben. Bei mir liegt alles auf Eis. Körperlich und emotional.« Er schaut besorgt, dann lächelt er. »Ist das auch klassisch?«
»Bin ich jetzt Ihre neue Therapeutin? Es ist absolut verständlich. Ihre Männlichkeit hat einen schweren Schlag erlitten. Aber es geht vorüber, wenn die richtige Frau kommt und Jupiter im Aszendenten steht. Dann wird alles gut sein, und alles wird gut sein. Juliana von Norwich. Das macht fünfzig Pfund.«
Er lächelt. »Beunruhigend günstig. Aber wenn es nicht vorübergeht? Wenn ich nun weiterhin …«
»Wenn Sie weiterhin
zurückhaltend
bleiben? Dann nehmen Sie eben belgische Pralinen. Kistenweise. Das ist sowieso viel befriedigender.«
»Und man kann sie allein essen.«
»Es wird gemeinhin angenommmen, dass wir sexuelle Wesen sind, aber das ist in Wirklichkeit nicht bei allen so.« Aus unerfindlichen Gründen stelle ich mir dabei den erigierten Penis des Physikers vor.
»Trifft genau auf mich zu. Unterdrückte Testosteronproduktion. Im Grunde hat mich Melina wohl …«
»Kastriert? Ein Klischee. Aber zweifellos zutreffend. Haben Sie eine Ersatzbefriedigung gefunden?«
|112| »Ich huldige zunehmend an den Altären des guten Essens«, gesteht er, als sein Dessert serviert wird, ein Gebilde aus Pfirsichen, Baiser und Sorbet.
»Seit dem hier«, sage ich und deute auf den Rollstuhl, »ist Sex bei mir auch nicht mehr Punkt eins der Tagesordnung.«
»Macht Ihnen das was aus?«
»Das ist alles schon so lange her, dass ich es praktisch vergessen habe«, lüge ich. »Den Männern scheint es allerdings eine Menge auszumachen.«
»Das wundert mich gar nicht!«, erwidert er galant und versteht mich absichtlich falsch, was mich erneut zum Lachen bringt.
»Die Jungs in der Reha waren alle davon besessen, wieder Sex zu haben. Ist es überhaupt möglich, können wir eine Frau befriedigen, wie bald können wir Viagra ausprobieren?«
»Und die Frauen? Wie war es für die?«
»Wir waren nur wenige Frauen. Anscheinend leben Männer gefährlicher. Angeborener Übermut. Jedenfalls waren wir nur zu zweit. Und das, was wir am meisten wollten, hatte nichts mit Sex zu tun.«
»Ich nehme an, Sie wollten aufstehen. Wieder Ihre alte Größe haben und den Leuten auf Augenhöhe begegnen.«
Ich betrachte seine leicht gerunzelte Stirn, das dichte, rostrote Haar, die tief liegenden braunen Augen, das eine mit dem grünen Fleck, und bin sehr gerührt, dass er sich Gedanken darüber macht. Ich werde ihn nicht korrigieren. Aber nicht aufstehen zu können, ist nicht das Schlimmste. Bei Weitem nicht.
Wir sind beim Kaffee angelangt, als Harry, der Geschäftsführer, an unseren Tisch kommt. »Sie haben womöglich eine ungebetene Besucherin. Sie sagt, sie möchte Sie kurz sprechen.« Er nickt diskret in Richtung Tür. »Sie wirkt ein bisschen durcheinander. Falls Sie sie nicht kennen, kann ich die Frau gerne wegschicken.«
Sie steht da, zerzaust und trotzig, die Hände tief in den Taschen einer schmuddeligen beigefarbenen Jacke vergraben. Es ist die rothaarige Frau.
|113| Mein Magen zieht sich
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