Endzeit
denkt.«
»Und sie müssen ernten, was sie gesät haben, und von Heuschreckenplagen, Erdbeben und so weiter heimgesucht werden. Die
Glaubenswelle
hat den Klimawandel als Anti-Öl-Verschwörung abgetan, mit der die UNO ihre Macht ausweiten wollte. Aber das hat sich weiterentwickelt. Neuerdings ist er ein Zeichen dafür, dass wir kurz vor dem Weltuntergang stehen. Darauf sind die ganz scharf, weil sie selbst ja entrückt werden. Ist Ihnen bewusst, dass es heute rein zahlenmäßig mehr fanatische Christen gibt als im Mittelalter?«
»Steht Ihre Kleine auf dieses Zeug?«
»Sie wurde damit groß. Allerdings fand man eine verbrannte Bibel im Mülleimer, nachdem sie ihre Mutter getötet hatte.«
»Sie hat ihre Mutter getötet? Herrgott. Das haben Sie mir gar nicht erzählt.« Es bereitet ihm deutliches Unbehagen. »Sind Sie in Ihrer Klinik etwa von Mördern umgeben?«
Ich zucke die Achseln. »Ich betrachte sie nicht als Mörder. Sie sind einfach gestört. Und es ist mein Beruf, mit ihnen zu arbeiten. Jedenfalls glaube ich, dass die Religion bei Kind B. eine wichtige Rolle spielt, bis heute. Und das ist noch vorsichtig ausgedrückt. Für sie war der Sturz der Christusfigur das, was für die antiwestlichen Muslime der 11. September war. Ein Grund, auf der Straße zu tanzen. Und zwar nicht nur, weil sie es angeblich vorausgesagt hat. Wenn ihr Vater sie besuchen käme, würde ich ihm eine Menge Fragen stellen.«
»Wenn sie seine Frau umgebracht hat, können Sie ihm kaum verdenken, dass er nicht kommt.«
»Die Dinge sind immer komplizierter, als sie auf den ersten Blick erscheinen«, erwidere ich. »Ich frage mich, welche Rolle |109| der Vater in ihrem Leben eingenommen hat. Und in dem ihrer Mutter.« Wir denken einen Moment darüber nach, dann richte ich die Gabel auf ihn. »Eschatologie.«
»Griechisch. Die Lehre von den letzten Dingen.«
»Korrekt. Wenn Sie Eschatologe sind und an die bevorstehende Apokalypse glauben, macht es Sie glücklich. Sie werden gerettet. Doch wie würden Sie als Sünder Ihre letzten Augenblicke auf Erden verbringen?«
»Ich weiß genau, was ich machen würde«, erwidert er belustigt. »In angenehmer, streitlustiger und extrem attraktiver Gesellschaft Spaghetti alle vongole essen. Nein, vergessen Sie das. Ich würde mit dieser Gesellschaft in ihren natürlichen Lebensraum reisen, vermutlich Paris, weil ich angesichts ihres Vornamens Gabrielle vermute, dass sie französische Wurzeln hat.«
»Frankokanadische.«
»Na schön, dann eben Montréal. Was natürlich nicht ganz so aufregend klingt. Jedenfalls würden wir uns in einem Michelinbesternten Restaurant ein gastronomisches Spektakel gönnen, das wir mit kistenweise belgischen Pralinen beschließen.«
Etwas an dem Physiker irritiert mich.
» Flirten
Sie etwa mit mir?«
»Wenn ja, dann auf ungefährliche Weise. Außerdem haben Sie damit angefangen. Sie haben es geradezu herausgefordert.«
Ich gehe in die Luft. »Aha. Dass ich vom neunten Rückenwirbel abwärts gelähmt bin, macht mich also zu einem ungefährlichen Flirt? Danke für die Blumen.«
»So habe ich es nicht gemeint. Ich meinte, dass ich auf eine
nicht bedrohliche
Weise flirte.«
»So wie schwule Männer?« Ins Blaue gefragt.
Interessant, der Physiker wirkt eher nachdenklich als empört. »Wie flirten schwule Männer denn?«
»Sie reden viel und machen Komplimente, aber körperlich wollen sie nichts von einem. Meinten Sie das mit nicht bedrohlich?«
|110| »Irgendwo habe ich gelesen, dass dreißig Prozent aller Menschen mindestens eine homosexuelle Erfahrung im Leben machen, und ich war ehrlich gesagt überrascht, dass es so wenige sind. In meinem Fall besteht das Hindernis allerdings darin, dass ich immer viel zu sehr auf gewisse eindeutig weibliche Attribute fixiert war.«
»Das ist mir aufgefallen.«
»Sie können also Gedanken lesen.«
Ich muss lachen. »Nein, aber ich habe Augen im Kopf und bin eine ganz normale Frau. Jedenfalls war ich das.« Ich halte entsetzt inne, weil ich es laut ausgesprochen habe. Das ist nicht komisch. Warum diskutiere ich mit diesem Physiker über meine Brüste, wenn unterhalb des Bauchnabels nichts mehr funktioniert?
»Tatsache ist, dass ich in dieser Hinsicht ziemlich, hm, zurückhaltend geworden bin, seit meine Ehe gescheitert ist«, gesteht der Professor.
Ich nicke. »Wie lange waren Sie zusammen?«
»Vier Jahre. Aber wir waren häufig getrennt. Melina unternahm lange Ausgrabungsexkursionen, während ich nach China oder sonst
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