Engel auf Abwegen
mir.
Ich saß an jenem Tag als Erste in Miss Laits Klasse, weil mein Daddy mich in die Stadt gefahren hatte, bevor er seine Arbeit auf der Ranch begann. Er hatte mit der Aufzucht von Longhorn-Rindern alle Hände voll zu tun, kümmerte sich um mehrere Ölquellen auf unserem Grundstück und um seine Investitionen. Er war ein Mann, der seine Arbeit nicht an jemand anderes delegieren konnte.
Danach beauftragte Daddy Rado, einen Rancharbeiter, dem er vertraute, damit, seine kleine Tochter täglich die fünf Meilen zur Schule in der Stadt und wieder zurück zu fahren, nachdem der Unterricht zu Ende war. Am ersten Tag jedoch verabschiedete sich Daddy in großem Stil von mir.
Trotz der Tatsache, dass meine Mutter mir unter Androhung von Schlägen ausdrücklich verboten hatte, derart NC-haftes zu tun, hätte ich wahrscheinlich angefangen zu heulen, wenn mein großer Bär von einem Daddy mir nicht in die Augen gesehen und gesagt hätte: »Du bist mein Mädchen, und mein Mädchen weint nicht.« Wie hätte ich da auch nur eine einzige Träne vergießen können? Ich hätte fast alles für den einzigen Mann, den ich liebte, getan, und auch nicht geheult, als er mich in eine Welt einführte, die mir fremd und feindlich vorkam (ein kleiner Junge hatte schon über mein Kleid gelacht), und mich dort Gott weiß wie lange zurückließ.
Und so tat ich das Einzige, was ich konnte. Ich schenkte meinem Vater ein strahlendes Lächeln, bevor er den winzigen Schulhof verließ. Dann suchte ich den Jungen mit dem üblen Mundwerk und versetzte ihm einen Klaps auf die Nase. Während der nächsten zwölf Schuljahre machte das rothaarige Kind mit den vielen Sommersprossen einen weiten Bogen um mich.
An jenem ersten Tag saß ich in der Klasse und wehrte mich gegen die Aufmerksamkeit, die mir alle zukommen ließen (die freundliche Art, an die ich gewöhnt war). Dann betrat Pilar das Klassenzimmer. Ihre Mutter war bei ihr und hielt das dunkelhaarige Mädchen an der Hand. Sie ging schnurstracks auf Miss Lait zu und erzählte ihr Gott weiß was. Danach hatte Miss Lait immer ziemlichen Respekt vor Mrs. Bass.
Pilar wurde angewiesen, brav zu sein und gute Noten nach Hause zu bringen. Ich kannte diese Vorträge über die braven Mädchen, und obwohl ich bis dahin Privatunterricht auf der Ranch erhalten hatte, hatte mir niemand gesagt, was Noten waren. Schon wieder etwas, wo ich »gut« sein konnte. Die Schule gefiel mir immer besser.
Als Mrs. Bass weg war, ging Pilar äußerst stur und dickköpfig auf mich zu und verkündete, dass ich ihre beste Freundin sei. Dann setzte sie sich neben mich. Ich wusste nicht recht, ob ich mit ihr befreundet sein wollte, aber sie war mir mit diesem ganzen Gute-Noten-Kram einen Schritt voraus, und ich beschloss, ihr noch nicht zu sagen, dass sie abhauen sollte.
Pilar nahm Stifte aus ihrer Mappe, dicke stumpfe Soldaten, die sie in Reih und Glied vor sich aufstellte, und dann eine Tafel und ein Lineal. Ich konnte mir nicht vorstellen, was sie mit diesem ganzen Zeug machen wollte, aber ich war fasziniert. Noch faszinierter war ich, als sie zu mir sagte: »Du siehst reich aus.«
Noch eine neue Idee.
»Was ist reich?«
»Wenn man eine Menge Geld hat.«
Ich verstand nichts von Geld. »Geld?«
Pilar seufzte ungeduldig. Sie war damals schon ziemlich altklug. »Hast du viele Spielsachen?«
»Ja.«
»Und viele Kleider?«
»Nicht so viele wie meine Mutter.«
»Hat sie viele Kleider?«
»O ja. Mehrere Kleiderschränke voll.«
»Dann bist du reich.«
Als ich an jenem Tag von der Schule nach Hause kam
und meine Mutter mich fragte, was ich gelernt hätte, verkündete ich stolz: »Dass ich reich bin.«
Sie verprügelte mich, schickte mich ohne Abendessen ins Bett und befahl mir, so etwas niemals wieder zu sagen. Aber meine Mutter stritt es auch nicht ab. Pilar wusste genau, von was sie redete, und ich wollte alles wissen, was sie wusste.
Wenige Sekunden vor Unterrichtsbeginn kam Nikki ohne ihre Eltern in die Klasse gestürmt. Ihr goldbraunes Haar war zerzaust und sah aus, als wäre es lange nicht mehr gekämmt worden. Für Pilar und mich, die in einer privilegierten, geordneten Umgebung aufwuchsen, war Nikki ziemlich exotisch. Ihr wirres Haar und die verknitterte, bunt zusammengewürfelte Kleidung störten sie überhaupt nicht. Außerdem hatte sie genügend Selbstvertrauen, um mit uns zu sprechen, wenn wir auf den Spielplatz gingen. Die anderen Kinder beobachteten uns, hielten sich jedoch in einiger Entfernung von uns
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