Engel aus Eis
Reise von Oslo war … beschwerlich. Man kann nicht den direkten Weg nehmen.« Er senkte den Blick.
»Gib dem Jungen etwas zu essen, Calle. Ich sorge dafür, dass wir heil nach Hause kommen. Diese Scheißminen überall, mit denen die Deutschen das Wasser verseuchen.« Er schüttelte den Kopf und ging die Treppe hinauf. Als er sich noch einmal umdrehte, begegnete ihm der Blick des Jungen. Das Mitleid, das er empfand, überraschte ihn. Wie alt mochte er sein? Höchstens achtzehn. Trotzdem spiegelten diese Augen manches, was nicht hätte sein dürfen. Zum Beispiel den Verlust der Jugend und ihrer Unschuld. Der Krieg hatte wirklich viele Opfer gefordert. Auch von den Lebenden.
G östa hatte ein schlechtes Gewissen. Hätte er ordentlich seine Arbeit gemacht, müsste dieser Mattias jetzt nicht im Krankenhaus liegen. Stimmte das überhaupt? Er wusste doch gar nicht, ob das etwas geändert hätte. Aber vielleicht hätte er herausgefunden, dass Per bereits im Frühjahr bei Frankels eingebrochen war, und das hätte dem Lauf der Ereignisse eine andere Richtung geben können. Als Gösta bei Adam war, um seine Fingerabdrücke zu nehmen, hatte der erwähnt, jemand aus seiner Schule habe erzählt, bei Frankels gebe es spannende Nazisachen. Das war das Puzzleteil, das sich in seinem Unterbewusstsein geregt, ihm keine Ruhe gelassen und ihn zum Narren gehalten hatte. Wäre er doch etwas aufmerksamer gewesen. Ein bisschen sorgfältiger. Kurz gesagt, hätte er einfach seine Pflicht getan. Er seufzte dieses spezielle Gösta-Seufzen, das er in jahrelangem Training perfektioniert hatte. Er wusste schließlich, was er zu tun hatte. Er musste versuchen, die Sache wieder in Ordnung zu bringen.
Er ging in die Garage und setzte sich in den noch verbliebenen Wagen. Mit dem anderen waren Martin und Paula nach Uddevalla gefahren. Vierzig Minuten später hielt er in Strömstad vor dem Krankenhaus. Am Empfang erfuhr er, dass sich der Zustand von Mattias stabilisiert hatte, und bekam eine Wegbeschreibung zu seinem Zimmer.
Bevor er die Tür aufmachte, holte er tief Luft. Es würden bestimmt Familienmitglieder bei ihm sein. Gösta mochte keine Begegnungen mit Angehörigen. Man konnte sich den Gefühlen nurschwer entziehen und hatte hinterher Schwierigkeiten, Distanz zur Arbeit zu halten. Trotzdem hatte er seine Kollegen und sich selbst hin und wieder durch ein gewisses Fingerspitzengefühl im Umgang mit Menschen in schwierigen Situationen beeindruckt. Hätte er mehr Kraft und Energie gehabt, hätte er diese Begabung vielleicht nutzen und ausbauen können, aber so blieb sie ein seltener und nicht besonders willkommener Gast.
»Haben Sie ihn?« Als Gösta eintrat, erhob sich ein großer Mann im Anzug und mit schief hängender Krawatte. Er hatte eine weinende Frau im Arm gehalten, die der Ähnlichkeit mit dem Jungen im Bett nach zu urteilen seine Mutter sein musste. Allerdings stammte die Übereinstimmung, die Gösta auffiel, aus seiner Erinnerung an die Begegnung vor Frankels Haus, denn der Junge im Bett war kaum zu erkennen. Sein Gesicht war eine einzige rote, verquollene und aufgescheuerte Wunde. An einigen Stellen wurde es auch schon blau. Die Lippen waren auf die doppelte Größe angeschwollen, und er schien nur mit einem Auge einigermaßen sehen zu können. Das andere war vollkommen zu.
»Wenn ich diesen verfluchten Schläger erwische«, polterte Mattias’ Vater und ballte die Fäuste. Er hatte Tränen in den Augen, und Gösta kam wieder in den Sinn, dass er um die Geschichte mit den Angehörigen und ihren Gefühlen lieber herumgekommen wäre.
Aber da er nun einmal hier war, konnte er es auch hinter sich bringen. Vor allem, da seine Schuldgefühle mit jeder Sekunde, in der er das malträtierte Gesicht von Mattias vor sich sah, zunahmen.
»Überlassen Sie das der Polizei.« Gösta setzte sich auf einen Stuhl. Er stellte sich mit seinem vollen Namen vor und sah den Eltern in die Augen, um sicherzugehen, dass sie ihm zuhörten.
»Wir haben Per zum Verhör einbestellt. Er hat die Tat gestanden und muss mit Konsequenzen rechnen. Wie diese aussehen, weiß ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht, das bleibt dem Staatsanwalt überlassen.«
»Aber er sitzt doch hinter Gittern, oder?«, fragte die Mutter mit zitternder Stimme.
»Im Moment nicht. Minderjährige werden nur im Ausnahmefall in Untersuchungshaft genommen. In der Praxis kommt das äußerst selten vor. Daher durfte er mit seiner Mutter nach Hause gehen. Die Ermittlungen gehen weiter. Das
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