Engel aus Eis
vorzugehen«, antwortete Kjell. »Sie ist ein Krebsgeschwür in unserer Gesellschaft, das wir mit allen Mitteln bekämpfen müssen, und wenn mein Vater zufälligerweise ein Teil dieser Wucherung ist, dann … ist er selbst schuld.« Kjell breitete die Arme aus. »Im Übrigen gibt es zwischen mir und meinem Vater, abgesehen von der Tatsache, dass er meine Mutter geschwängert hat, keine Bindung. Als Kind habe ich ihn nur im Besuchsraum im Gefängnis gesehen. Als ich alt genug war, mir Gedanken zu machen und eigene Entscheidungen zu fällen, wurde mir klar, dass er kein Mensch ist, mit dem ich etwas zu tun haben möchte.«
»Sie haben also keinen Kontakt? Sieht Per denn seinen Großvater?«, fragte Martin aus reiner Neugier, obwohl es für die Ermittlungen eigentlich keine Bedeutung hatte.
»Ichhabe überhaupt keinen Kontakt zu ihm, aber meinem Sohn hat er bedauerlicherweise einen Haufen Mist eingeredet. Solange Per klein war, konnten wir verhindern, dass sie sich begegneten, aber seitdem er alt genug ist und sich frei bewegen kann … Es ist uns nicht gelungen, die Beziehung in dem Maße zu unterbinden, wie wir uns das gewünscht hätten.«
»Das wäre dann alles. Vorläufig«, fügte Martin hinzu und stand auf. Paula folgte seinem Beispiel. Auf dem Weg zur Tür blieb Martin stehen und drehte sich noch einmal um.
»Sind Sie ganz sicher, dass Sie keine Informationen von oder über Erik Frankel haben, die für uns von Nutzen sein könnten?«
Ihre Blicke trafen sich, und für einen Moment sah es so aus, als ob Kjell zögerte. Dann schüttelte er mit Nachdruck den Kopf und sagte kurz angebunden: »Absolut sicher.«
Auch diesmal schenkten sie ihm keinen Glauben.
Margareta wurde unruhig. Seit ihr Vater gestern zu Besuch gekommen war, ging drüben bei ihren Eltern niemand ans Telefon. Das war merkwürdig und besorgniserregend. Britta und Herman sagten immer Bescheid, wenn sie irgendwohin gingen, doch inzwischen unternahmen sie ohnehin nicht mehr viel. Sie rief jeden Abend in ihrem Elternhaus an, um sich ein bisschen zu unterhalten. Dieses Ritual pflegten sie seit vielen Jahren, und sie konnte sich nicht entsinnen, dass ihre Eltern auch nur ein einziges Mal nicht an den Apparat gegangen wären. Diesmal wählte sie die Nummer, die ihre Finger mittlerweile auswendig kannten, vergeblich. Wieder und wieder ertönte der einsame Klingelton, ohne dass am anderen Ende jemand den Hörer abnahm. Sie hatte bereits am gestrigen Abend hinübergehen und nachsehen wollen, aber Owe, ihr Mann, hatte sie überredet, bis zum nächsten Tag abzuwarten. Die beiden seien bestimmt früh ins Bett gegangen. Doch nun war Morgen, fast schon Vormittag, und es antwortete noch immer niemand. Margaretas Unruhe wurde immer stärker, bis sie fast sicher wusste, dass etwas passiert war. Eine andere Erklärung konnte es nicht geben.
Sie zog Schuhe und Jacke an und machte sich entschlossen auf den Weg zu ihrem Elternhaus. In jeder Sekunde dieses zehnminütigen Spaziergangs machte sie sich Vorwürfe, weil sie auf Owe gehört und nicht schon gestern Abend hingegangen war. Irgendetwas stimmte nicht, das spürte sie.
Als sie nur noch ungefähr hundert Meter entfernt war, sah sie eine Person vor der Haustür stehen. Blinzelnd versuchte sie zu erkennen, wer es war, doch erst, als sie näher gekommen war, erkannte sie die Schriftstellerin Erica Falck.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte sie freundlich, hörte jedoch selbst den besorgten Unterton heraus.
»Ich … möchte zu Britta. Aber es macht niemand auf«, antwortete die blonde Frau auf dem Treppenabsatz unbeholfen.
»Ich rufe die beiden seit gestern Abend an, aber es geht niemand ans Telefon. Deswegen will ich nachsehen, ob mit ihnen alles in Ordnung ist«, sagte Margareta. »Sie können mit hereinkommen und im Flur warten.« Margareta streckte die Hand nach einem der Balken aus, die das Dach über dem Eingangsbereich abstützten, und zog einen Schlüssel hervor. Mit zitternder Hand öffnete sie die Tür.
»Kommen Sie, ich gehe nachsehen«, rief sie und war auf einmal ganz froh, nicht allein zu sein. Eigentlich hätte sie ihre Schwestern anrufen sollen, bevor sie hierherkam. Doch dann hätte sie nicht verhehlen können, für wie ernst sie die Lage hielt. Dass die Besorgnis sie innerlich auffraß.
Sie ging durchs Erdgeschoss. Hier war alles sauber und ordentlich und sah aus wie immer.
»Mama? Papa?«, rief sie, erhielt aber keine Antwort. Nun bekam sie es ernsthaft mit der Angst zu tun. Sie
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