Engel aus Eis
natürlich keine große Bedrohung dar. Aber er hat dazu beigetragen, ein fehlerhaftes Bild zu verbreiten, das die Gewinner des Krieges mit harter Arbeit durchgesetzt haben. Das durfte natürlich nicht toleriert werden. Rein theoretisch.«
Martin wollte etwas sagen, aber Peter fiel ihm ins Wort. Er war offensichtlich noch nicht fertig.
»All die Bilder und Erzählungen aus den Konzentrationslagern und ähnliche Dinge sind Übertreibungen und Lügen, die uns als Wahrheiten eingehämmert werden. Wissen Sie, warum? Um die ursprüngliche und wahre Botschaft zu unterdrücken. Geschichte wird immer von den Siegern geschrieben, und die haben sich entschlossen, die Wirklichkeit in Blut zu ertränken und der Welt ein völlig verdrehtes Bild vorzugaukeln, damit niemand es wagt, die Frage zu stellen, ob die richtige Seite gewonnen hat. Erik Frankel war ein Teil dieser Verdunkelungspropaganda, und daher steht jemandwie er … rein theoretisch … der Gesellschaft im Wege, die wir erschaffen wollen.«
»Aber Ihres Wissens wurden ihm gegenüber keine tatsächlichen Drohungen ausgesprochen?« Martin betrachtete ihn. Er wusste, wie die Antwort lauten würde.
»Nein, das haben wir nicht. Wir richten uns nach den Regeln der Demokratie. Stimmzettel, Manifeste, wir erhalten unsere Macht durch Volkes Stimme. Etwas anderes wäre uns vollkommen fremd.« Er sah Paula an, die ihre Finger ineinander verschränkte. Vor ihrem inneren Auge sah sie die Soldaten, die ihren Vater abholten. Sie hatten den gleichen Ausdruck in den Augen.
»Dann wollen wir nicht länger stören.« Martin stand auf. »Die Polizei Uddevalla hat uns die Namen der übrigen Vorstandsmitglieder gegeben. Mit denen werden wir natürlich auch sprechen.«
Peter erhob sich und nickte. »Selbstverständlich. Aber Ihnen wird niemand etwas anderes sagen. Und was Frans betrifft … Ich würde einem Mann, der in der Vergangenheit lebt, nicht so viel Gehör schenken.«
Erica hatte Schwierigkeiten, sich aufs Schreiben zu konzentrieren. Ständig kamen ihr die Gedanken an ihre Mutter in die Quere. Sie nahm den Stapel Zeitungsartikel zur Hand und legte den mit dem Foto ganz nach oben. Es war so frustrierend, die Gesichter dieser Menschen anzustarren, ohne eine Antwort von ihnen zu bekommen. Sie beugte sich vor, hielt sich das Papier direkt vors Gesicht und betrachtete einen nach dem anderen bis ins kleinste Detail. Zuerst Erik Frankel. Ernster Blick in die Kamera. Steife Haltung. Er hatte etwas Trauriges an sich. Ohne zu wissen, ob es richtig oder falsch war, zog sie die Schlussfolgerung, dass die Gefangennahme seines Bruders Spuren hinterlassen hatte. Als sie ihn im Juni besucht hatte, um nach dem Orden ihrer Mutter zu fragen, hatte er jedoch genauso ernst und traurig gewirkt.
Erica ließ ihren Blick weiter zu Frans Ringholm wandern. Er sah gut aus. Sogar sehr gut. Blonde Locken, die wahrscheinlich etwas weiter über den Kragen fielen, als es seinen Eltern lieb war.Er grinste breit und charmant in die Kamera und hatte den Personen, zwischen denen er stand, lässig die Arme um die Schultern gelegt, doch beide schienen das nicht besonders zu schätzen.
Das junge Mädchen rechts von Frans wurde von Erica ganz genau betrachtet. Ihre Mutter. Elsy Moström. Sie hatte zwar einen weicheren Gesichtsausdruck, als Erica je bei ihr gesehen hatte, doch ihr taktvolles Lächeln war von einer gewissen Strenge geprägt, die deutlich zeigte, dass ihr der Arm auf der Schulter überhaupt nicht behagte. Erica kam nicht umhin, sich Gedanken darüber zu machen, wie niedlich ihre Mutter aussah. Sie sah so nett aus. Die Elsy, die sie gekannt hatte, war kalt und unzugänglich gewesen. Nichts an diesem Mädchen ließ ihre spätere Schroffheit erahnen. Sachte strich Erica mit dem Finger über das Gesicht ihrer Mutter. Alles hätte so anders sein können, wenn sie ihre Mutter so kennengelernt hätte. Was war mit ihr passiert? Warum war all ihre Sanftheit verschwunden? Wieso hatte sich ihre Freundlichkeit in Gleichgültigkeit verwandelt? Weshalb hatte sie sich nie überwinden können, diese Arme mit der zarten Haut, die man unter den kurzen Ärmeln des geblümten Kleides erkennen konnte, um ihre Töchter zu legen und sie an sich zu drücken?
Bedrückt wandte sich Erica der nächsten Person zu. Brittas Blick war nicht in die Kamera, sondern auf Elsy gerichtet. Oder sah sie Frans an? Das ließ sich nicht erkennen. Erica griff nach dem Vergrößerungsglas und blinzelte, um Brittas Gesicht so scharf wie möglich
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