Engel aus Eis
konnte kaum noch atmen. Sie hätte unbedingt ihre Schwestern anrufen sollen.
»Bleiben Sie hier, ich sehe oben nach«, sagte sie zu Erica und ging die Treppe hinauf. Sie beeilte sich nicht, sondern stieg langsam und innerlich bebend hinauf. Es war so unnatürlich still, doch als sie die oberste Stufe erreicht hatte, hörte sie ein leises Geräusch. Es klang wie ein Schluchzen. Fast wie ein weinendes Kind. Sie hielt einen Augenblick inne, um herauszufinden, woher die Laute kamen, merkte aber bald, dass sie aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern drangen. Mit heftig pochendem Herzen hastete sie dorthin und machte vorsichtig die Tür auf. Es dauerte einpaar Sekunden, bis sie das Bild, das sich ihr bot, verarbeitet hatte. Dann hörte sie, wie aus weiter Ferne, ihre eigene Stimme um Hilfe schreien.
Per öffnete ihm die Tür.
»Opa.« Er machte ein Gesicht wie ein Welpe, der einen Klaps auf den Kopf erwartete.
»Was hast du wieder angestellt?«, fragte Frans barsch und drängte sich an ihm vorbei.
»Aber ich … er … hat doch so viel Mist erzählt. Sollte ich das etwa auf mir sitzen lassen?« Per wirkte gekränkt. Er hatte gedacht, wenigstens sein Großvater würde ihn verstehen. »Verglichen mit den Sachen, die du gemacht hast, war das Kinderkram«, fügte er trotzig hinzu, wich jedoch Frans’ Blick aus.
»Deshalb weiß ich ja, wovon ich rede.« Frans packte ihn an den Schultern, schüttelte ihn und zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen.
»Wir setzen uns jetzt zusammen hin und unterhalten uns, damit du endlich Vernunft annimmst. Wo ist überhaupt deine Mutter?« Frans sah sich nach Carina um. Er war bereit, für sein Recht zu kämpfen, hier zu sein und mit dem Enkelsohn zu reden.
»Wahrscheinlich schläft sie ihren Rausch aus.« Per trottete in die Küche. »Als wir gestern nach Hause kamen, hat sie angefangen zu saufen, und als ich ins Bett ging, war sie immer noch dabei, aber nun habe ich sie schon seit einer ganzen Weile nicht gehört.«
»Ich schaue mal nach ihr. Du setzt inzwischen Kaffee auf«, sagte Frans.
»Ich weiß aber gar nicht, wie man das …«, begann Per in seinem quengeligen und widerspenstigen Tonfall.
»Dann wird es höchste Zeit, dass du es lernst«, zischte Frans und machte sich auf den Weg zu Carinas Schlafzimmer.
Er rief ihren Namen, wurde aber nur von einem lauten Schnarchen empfangen. Sie fiel beinahe aus dem Bett, und der eine Arm hing auf dem Boden. Es roch nach Suff und Kotze.
»Igitt«, sagte Frans, doch dann ging er zu ihr, legte ihr die Hand auf die Schulter und schüttelte sie.
»Dumusst jetzt aufwachen, Carina.« Noch immer keine Reaktion. Er sah sich um. Das Badezimmer grenzte direkt ans Schlafzimmer. Er ging hinein und ließ Wasser in die Wanne laufen. Währenddessen zog er sie angewidert aus. Da sie nur BH und Höschen trug, dauerte es nicht lang. Eingewickelt in ihre Decke trug er sie zur Badewanne und legte sie einfach ins Wasser.
»Was soll der Mist?«, lallte seine ehemalige Schwiegertochter verschlafen. »Was machst du da?«
Frans antwortete nicht, sondern ging zu ihrem Kleiderschrank, suchte etwas Sauberes zum Anziehen heraus und legte die Sachen auf den Klodeckel.
»Per hat Kaffee aufgesetzt. Wasch dich, zieh dich an und komm in die Küche.«
Einen Augenblick lang schien sie protestieren zu wollen. Dann nickte sie gefügig.
»Na, ist dir das Kunststück gelungen, eine Kaffeemaschine einzuschalten?«, fragte er Per, der am Küchentisch saß und seine Nagelhaut untersuchte.
»Der schmeckt bestimmt beschissen«, antwortete Per grimmig.
Frans musterte die pechschwarze Flüssigkeit, die in die Glaskanne tröpfelte. »Stark genug ist er anscheinend.«
Lange saßen er und sein Enkelsohn sich schweigend gegenüber. Es war ein so seltsames Gefühl, die eigene Geschichte bei einem anderen noch einmal zu erleben. Natürlich konnte er in dem Jungen Züge seines eigenen Vaters erkennen. Er bereute es noch immer, dass er ihn nicht erschlagen hatte. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn er es getan hätte. Wenn er die Wut, die in ihm gärte, gegen denjenigen gerichtet hätte, der sie eigentlich verdiente. Anstatt sich anderweitig Luft zu machen, ohne Richtung und ohne Ziel. Sie war immer noch da, das wusste er. Er ließ sich nur nicht mehr von ihr beherrschen, wie in seiner Jugend. Nun hatte er den Zorn unter Kontrolle und nicht umgekehrt. Davon musste er auch seinen Enkelsohn überzeugen. Wut war nicht verkehrt. Es kam nur darauf an, selbst zu bestimmen, wann man sie
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