Engel aus Eis
Mutter und Vater lächerlich! Vor einem wildfremden Menschen wie ein Kleinkind loszuheulen!
»Kennt Ihre Tochter diesen … Axel?«, fragte der Norweger bekümmert und blickte ihr hinterher.
»Sie und sein jüngerer Bruder sind befreundet. Erik ist die Sache sehr an die Nieren gegangen. Der ganzen Familie natürlich.« Elof seufzte.
Ein Schatten fiel über seine Augen. »Dieser Krieg hat vielen übel mitgespielt«, sagte der Norweger. Elof spürte, dass dieser Junge Dinge gesehen hatte, die kein Mensch in seinem Alter erleben sollte.
»Was ist mit deiner Familie?«, fragte er vorsichtig. Hilma, die gerade einen Teller abtrocknete, wurde ganz still.
»Ich weiß nicht, wo sie sind«, antwortete Hans schließlich und senkte den Blick. »Wenn der Krieg zu Ende ist, falls es dazu jemals kommt, muss ich sie suchen. Vorher kann ich nicht nach Norwegen zurückkehren.«
Hilmas und Elofs Blicke trafen sich über dem hellen Schopf des Jungen. Nach einem kurzen stummen Zwiegespräch waren sie sich einig. Elof räusperte sich.
»Im Sommer vermieten wir das Haus ja immer an Urlauber und ziehen in den Keller, aber ansonsten steht der Raum dort unten leer. Vielleicht willst du … eine Zeitlang hierbleiben und in Ruhe überlegen, wohin du als Nächstes gehen willst. Arbeit kann ich dir auch beschaffen. Vielleicht keine, die dich rund um die Uhr beschäftigt, aber zumindest wirst du ein bisschen Geld in der Tasche haben. Ich muss dem Kämmerer natürlich berichten, dass ich dich mit an Land gebracht habe, aber wenn ich verspreche, mich um dich zu kümmern, gibt es bestimmt keine Probleme.«
»Sie müssen mir nur erlauben, mit dem Geld, das ich verdiene, Miete für das Zimmer zu bezahlen.« Hans’ Augen füllten sich mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Schuld.
Elof warf Hilma einen Blick zu und nickte.
»Das können wir so machen. In diesen Zeiten ist jeder Zuschuss willkommen.«
»Ich gehe alles vorbereiten.« Hilma zog ihren Mantel über.
»Ich bin Ihnen wirklich dankbar«, sagte der Junge in seinem singenden Norwegisch und senkte schnell den Kopf, doch Elof hatte trotzdem das feuchte Glitzern in seinen Augen bemerkt.
»Das ist doch nicht der Rede wert«, sagte er unbeholfen.
H ilfe!«
Erica zuckte zusammen, als sie den Schrei im oberen Stockwerk hörte. Sie raste los und erklomm mit wenigen Schritten die Treppe.
»Was ist passiert?« Als sie Margaretas Gesichtsausdruck sah, blieb sie ruckartig stehen. Margareta stand vor einem der Zimmer im Obergeschoss. Erica ging ein paar Schritte näher heran und schnappte nach Luft, als sie ein Doppelbett erblickte.
»Papa«, wimmerte Margareta und trat ein. Erica blieb in der Tür stehen. Sie wusste nicht, was hier vor sich ging und was sie tun sollte.
»Papa …«, wiederholte Margareta.
Herman lag auf dem Bett. Er starrte an die Decke und reagierte nicht. Neben ihm lag Britta. Ihr Gesicht war weiß und starr, und es bestand kein Zweifel daran, dass sie tot war. Herman lag ganz dicht neben ihr und hatte die Arme um ihren steifen Körper gelegt.
»Ich habe sie umgebracht«, sagte er leise. Margareta holte erschrocken Luft.
»Was sagst du da, Papa? Natürlich hast du Mama nicht umgebracht!«
»Ich habe sie umgebracht.« Er klammerte sich noch fester an seine tote Ehefrau.
Seine Tochter umrundete das Bett und setzte sich neben ihn. Behutsam versuchte sie, seinen verkrampften Griff zu lockern,und schließlich gelang es ihr auch. Sie strich ihm über die Stirn und sprach leise mit ihm.
»Es war nicht deine Schuld. Mama ging es nicht gut. Wahrscheinlich hat ihr Herz einfach aufgehört zu schlagen. Dafür kannst du doch nichts.«
»Ich habe sie umgebracht«, wiederholte er unbeirrbar und starrte einen Fleck an der Decke an.
Margareta drehte sich zu Erica um. »Rufen Sie bitte einen Krankenwagen.«
Erica zögerte. »Soll ich auch die Polizei rufen?«
»Mein Vater steht unter Schock. Er weiß nicht, was er sagt. Wir brauchen keine Polizei«, erwiderte Margareta in scharfem Ton. Dann wandte sie sich wieder ihrem Vater zu und ergriff seine Hand.
»Lass mich das machen, Papa. Ich rufe Anna-Greta und Birgitta an, und dann helfen wir dir. Wir sind für dich da.«
Herman antwortete nicht, sondern lag bloß willenlos da und ließ sie seine Hand halten, aber er erwiderte den Druck nicht.
Erica ging nach unten und zog ihr Handy aus der Tasche. Sie überlegte lange, bevor sie die Nummer eintippte.
»Hallo, Martin, hier ist Erica. Die Frau von Patrik. Hier ist etwas passiert.
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