Engel aus Eis
Kjell mit den drei Zeitungsartikeln allein.
Kjell kratzte sich am Bart und schlug die Mappe auf. Er hatte das Material schon dreimal durchgelesen, doch jedes Mal waren andere Dinge dazwischengekommen, die ihn davon abhielten, wirklich mit der Arbeit zu beginnen. Wenn er ehrlich war, hatte er sich auch gefragt, ob es Sinn hatte, viel Zeit damit zu verschwenden. Vielleicht war der Alte verkalkt. Warum redete er nicht Klartext, wenn er tatsächlich über so sensationelle Informationen verfügte, wie er behauptete? Nun sah die Lage vollkommen anders aus. Erik Frankel war ermordet worden. Plötzlich schien die Mappe unter seinen Fingern zu glühen.
Es war Zeit, die Ärmel hochzukrempeln und loszulegen. Er wusste schon genau, wo er anfangen würde. Beim einzigen gemeinsamen Nenner der drei Artikel. Dem norwegischen Widerstandskämpfer namens Hans Olavsen.
Fjällbacka 1944
H ilma!« Elofs Tonfall ließ Ehefrau und Tochter sofort herbeieilen.
»Meine Güte, was brüllst du denn so?«, fragte Hilma, verstummte jedoch, als sie sah, dass Elof nicht allein war.
»Haben wir Besuch?« Nervös trocknete sie sich die Hände an ihrer Schürze ab.
»Und ich bin mitten im Abwasch …«
»Keine Sorge«, sagte Elof beruhigend. »Dem Jungen hier ist es ziemlich egal, wie es bei uns aussieht. Er ist heute auf dem Schiff mitgekommen, weil er vor den Deutschen geflohen ist.«
Der Junge reichte Hilma die Hand und verbeugte sich.
»Hans Olavsen«, sagte er in seinem norwegischen Singsang und gab auch Elsy die Hand. Sie nickte unsicher.
»Vielleicht haben wir eine kleine Stärkung für ihn, er hat nämlich keine leichte Reise hinter sich.« Elof hängte seine Mütze auf und drückte Elsy die Jacke in die Hand, doch sie blieb wie angewurzelt stehen.
»Na los, Mädchen, häng die Jacke auf«, sagte ihr Vater streng, aber dann konnte er es sich nicht verkneifen, ihr über die Wange zu streichen. Angesichts der Gefahren, die mittlerweile jede Fahrt mit sich brachte, empfand er es immer als Geschenk, nach Hause zu kommen und Frau und Tochter wiederzusehen. Er räusperte sich betreten, weil er in Anwesenheit eines Fremden so viel Gefühl gezeigt hatte.
»Tritt ein. Hilma hat sicher etwas zu essen und zu trinken für uns.« Elof setzte sich an den Küchentisch.
»Wir haben zwar selbst nicht viel«, sagte seine Ehefrau mit gesenktem Blick, »aber davon geben wir gerne etwas ab.«
»Ich bin Ihnen aufrichtig dankbar.« Der Junge setzte sich Elof gegenüber und betrachtete hungrig den Teller mit den belegten Broten, den Hilma auf den Tisch gestellt hatte.
»Bedient euch.« Sie ging zum Schrank, um den beiden Männern ein Schnäpschen einzuschenken. Es war ein teurer Tropfen, aber bei so einer Gelegenheit passte er.
Sie aßen eine Weile schweigend. Als nur noch ein Brot übrig war, schob Elof dem Norweger den Teller hinüber und gab ihm zu verstehen, dass er es nehmen sollte. Elsy, die an der Spüle stand und ihrer Mutter half, beobachtete die beiden heimlich. Es war wahnsinnig spannend, dass hier in ihrer Küche jemand saß, der in Norwegen vor den Deutschen geflohen war. Das musste sie unbedingt den anderen erzählen. Sie konnte es kaum erwarten. Plötzlich kam ihr ein Gedanke, und sie musste sich auf die Zunge beißen, um ihn nicht auszuplappern.
Ihr Vater musste jedoch den gleichen Einfall gehabt haben, denn genau in diesem Augenblick fragte er: »Wir haben hier einen Jungen in der Gegend, den die Deutschen geschnappt haben. Es ist schon über ein Jahr her, aber vielleicht weißt du …« Elof öffnete die Arme. Sein Blick hing hoffnungsvoll an den Lippen des Jungen gegenüber.
»Die Wahrscheinlichkeit, dass ich ihn kenne, ist nicht groß. Es gibt so viele. Wie heißt er denn?«
»Axel Frankel«, antwortete Elof und sah den Norweger erwartungsvoll an. Er wurde jedoch enttäuscht. Nachdem der Junge eine Weile nachgedacht hatte, schüttelte er langsam den Kopf.
»Leider nicht. Er ist uns nicht begegnet. Das glaube ich jedenfalls. Sie haben nicht zufällig gehört, was mit ihm passiert ist? Irgendeinen Anhaltspunkt …?«
»Nein.« Auch Elof schüttelte den Kopf. »Die Deutschen haben ihn in Kristiansand festgenommen, und seitdem haben wir kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten. Soweit wir wissen, könnte er …«
»Nein, Vater, das ist unmöglich!« Elsy traten die Tränen in dieAugen. Gedemütigt rannte sie nach oben in ihr Zimmer. Wie konnte sie sich nur so unmöglich benehmen, sie machte ja nicht nur sich selbst, sondern auch
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