Engel aus Eis
nicht zu, aber Anna merkte, dass sie ihre Kinder mochte, was ihren Teenagertrotz teilweise verzeihlich machte. Außerdem fand sie hin und wieder, dass Dan nicht begriff, wie es seiner ältesten Tochter ging und warum sie so reagierte. Irgendwie hatten sich die beiden in eine vertrackte Lage manövriert, aus der keiner von beiden einen Ausweg fand. Seufzend ging Anna ins Wohnzimmer und sammelte die Spielsachen ein, die die Kinder mit bewundernswerter Präzision auf jedem freien Fleck verteilt hatten.
Abgesehen von den Streitigkeiten hatte sie in den letzten Tagen versucht, die Erkenntnis zu verdauen, dass sie und Dan ein Kind bekamen. Gedanken waren ihr durch den Kopf gerast, und sie hatte viel Energie darauf verwandt, ihre Ängste zu verdrängen. Außerdem fühlte sie sich genauso mies wie bei den vorigenSchwangerschaften. Sie übergab sich nicht so oft, sondern lief stattdessen mit einem widerlichen Gefühl im Magen herum, als wäre sie permanent seekrank. Dan hatte voll Sorge festgestellt, dass sie ein wenig von ihrem ansonsten so gesunden Appetit verloren hatte, und rannte ihr wie eine besorgte Glucke hinterher, um sie mit verschiedensten Köstlichkeiten zum Essen zu verführen.
Sie setzte sich aufs Sofa, lehnte den Oberkörper nach vorn und versuchte, sich auf ihren Atem zu konzentrieren, um die Übelkeit in den Griff zu bekommen. Beim letzten Mal, als sie mit Adrian schwanger war, hatte es bis zum achten Monat gedauert, und es waren lange Monate gewesen … Oben hörte sie wieder aufgeregte Stimmen, die von Belindas lauter Musik begleitet wurden. Es war einfach nicht zum Aushalten. Sie spürte, wie sich die Übelkeit steigerte. Mit dem Würgereflex stieg bittere Galle in ihrer Speiseröhre auf. Schnell erhob sie sich und hastete zur Toilette im Erdgeschoss, kniete sich vor die Kloschüssel und versuchte das, was in ihr aufstieg, loszuwerden. Aber es wollte nichts kommen. Nur das leere Aufstoßen, das keine Erleichterung brachte.
Erschöpft rappelte sie sich wieder auf und betrachtete ihr Gesicht im Badezimmerspiegel. Der Anblick erschreckte sie. Sie war so weiß wie das Handtuch in ihrer Hand, und ihre Augen waren groß und voller Angst. So ähnlich hatte sie in der Zeit mit Lucas ausgesehen. Dabei war doch jetzt alles ganz anders. Viel schöner. Sie strich sich über den noch flachen Bauch. So viel Hoffnung. Und so viele Sorgen. Konzentriert in einem kleinen Punkt in ihrem Bauch, in ihrer Gebärmutter. So abhängig und winzig. Natürlich hatte sie darüber nachgedacht, mit Dan ein Kind zu bekommen. Aber nicht jetzt. Noch nicht. Irgendwann in einer fernen, unbestimmten Zukunft. Wenn sich alles beruhigt und stabilisiert hatte. Trotzdem hatte sie nie etwas dagegen unternommen, und nun war nichts mehr daran zu ändern. Das Band war geknüpft. Diese unsichtbare, zarte und doch so starke Verbindung zwischen ihr und dem Punkt, der für das bloße Auge noch nicht zu erkennen war. Sie atmete tief durch und verließ das Badezimmer. Die lauten Stimmen waren die Treppe heruntergekommen und drangen nun aus dem Flur.
»Ich will doch nur zu Linda! Ist das so schwer zu kapieren? Darf ich jetzt nicht einmal mehr Freunde haben, du Blödmann?«
Anna hörte, wie Dan zu einer dröhnenden Antwort ansetzte, doch nun war ihre Geduld am Ende. Mit großen Schritten marschierte sie zu ihnen und brüllte aus vollem Hals: »Jetzt haltet ihr beiden die SCHNAUZE! Verstanden? Ihr führt euch auf wie Kleinkinder. Damit ist jetzt SOFORT Schluss!« Sie streckte einen Zeigefinger in die Höhe und fuhr fort, bevor ihr jemand ins Wort fallen konnte: »Du, Dan, hörst endlich auf, Belinda anzubrüllen, und machst dir klar, dass du sie nicht einsperren kannst. Sie ist siebzehn Jahre alt und muss ihre Freunde treffen dürfen!«
Belinda strahlte zufrieden, aber Anna war noch nicht fertig.
»Und wenn du möchtest, dass man dich ernst nimmt, fängst du endlich an, dich wie ein erwachsener Mensch zu benehmen! Und ich will kein dummes Zeug mehr darüber hören, dass die Kinder und ich hier wohnen, denn nun ist es eben so, egal, ob dir das passt oder nicht, und wenn du uns eine Chance gibst, sind wir bereit, dich kennenzulernen.«
Atemlos schnappte Anna nach Luft und sprach in einem Ton weiter, der Belinda und Dan vor Schreck wie Zinnsoldaten vor ihr Aufstellung nehmen ließ: »Im Übrigen werden wir nicht wieder ausziehen, falls das dein Plan ist, weil dein Vater und ich nämlich ein Kind zusammen bekommen, das für meine Kinder und für dich und
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