Engel aus Eis
Gestern waren die Töchter mit ihren Familien zum Essen gekommen. Am Sonntag. Gestern. Also musste heute Montag sein. Eindeutig. Erleichtert blieb Britta stehen. Es war wie ein kleiner Sieg. Sie wusste, welcher Tag heute war.
Ihr kamen die Tränen. Sie setzte sich in eine Sofaecke. Das Josef-Franck-Motiv war ihr so vertraut. Sie und Herman hatten den Stoff zusammen ausgesucht, das hieß, sie hatte die Wahl getroffen und er hatte zustimmend genickt. Alles, was sie glücklich machte. Er hätte auch ein orangefarbenes Sofa mit grünen Punkten akzeptiert, wenn sie sich das gewünscht hätte. Herman … Wo war er überhaupt? Unruhig nestelte sie am Blumenmuster herum.Sie wusste doch, wo er war. Eigentlich. Ganz deutlich sah sie vor sich, wie seine Lippen sich bewegten, als er klar und deutlich sagte, wo er hin wollte. Sie wusste sogar noch, dass er es mehrmals wiederholt hatte. Aber genau wie vorhin der Wochentag rutschte ihr nun diese kleine Information weg und verhöhnte sie. Frustriert griff sie nach der Armlehne. Es musste ihr doch wieder einfallen! Wenn sie sich nur konzentrierte. Angst überkam sie. Wo war Herman? Wollte er lange wegbleiben? Er war doch nicht verreist? Hatte er sie allein zurückgelassen? Vielleicht hatte er sie ja verlassen. Was sprachen die Lippen aus, die sie in ihrer bruchstückhaften Erinnerung vor sich sah? Die Trennung? Sie musste nachsehen, ob seine Sachen noch da waren. Britta rannte die Treppe hoch. Wie eine Flutwelle brandete die Panik in ihren Ohren. Was hatte Herman gesagt? Ein Blick in den Kleiderschrank beruhigte sie. Seine Sachen waren noch da. Jacketts, Pullover, Hemden. Alles noch da. Aber sie wusste noch immer nicht, wo er sich befand.
Britta warf sich aufs Bett, rollte sich zusammen wie ein kleines Kind und fing an zu weinen. In ihrem Gehirn gingen Dinge verloren. Mit jeder Minute. Die Festplatte ihres Lebens wurde gelöscht. Sie war machtlos dagegen.
»Ihr wart aber lange spazieren!« Erica umarmte Patrik und Maja und bekam ein feuchtes Küsschen von ihrer Tochter.
»Wolltest du nicht arbeiten?« Patrik wich Ericas Blick aus.
»Doch …« Erica seufzte. »Aber ich finde den Anfang nicht. Die meiste Zeit habe ich auf den Bildschirm gestarrt und Süßigkeiten gegessen. Wenn das so weitergeht, wiege ich noch vor Ende des Buches hundert Kilo.« Sie half Patrik, Maja auszuziehen. »Ich konnte es mir nicht verkneifen, in Mutters Tagebüchern zu lesen.«
»Steht etwas Interessantes drin?« Patrik war erleichtert, dass sie nicht fragte, warum der Spaziergang so lange gedauert hatte.
»Hauptsächlich Alltagsbeschreibungen. Ich habe erst ein paar Seiten gelesen. Irgendwie habe ich das Gefühl, ich sollte es mir lieber häppchenweise zu Gemüte führen.«
Erica ging in die Küche und wechselte das Thema. »Wollen wir Tee trinken?«
»Gerne.« Patrik hängte die Jacken auf und sah Erica zu, während sie mit dem Wasserkocher, den Teebeuteln und den Bechern hantierte. Maja schleuderte ihre Spielsachen durchs Wohnzimmer. Nach wenigen Minuten stellte Erica zwei dampfende Teetassen auf den Küchentisch und setzte sich Patrik gegenüber.
»Jetzt rück schon damit raus!« Sie kannte Patrik einfach zu gut. Dieser verstohlene Blick, das nervöse Trommeln der Finger. Irgendetwas wollte oder konnte er ihr nicht erzählen.
»Was denn?« Er sah sie mit großen Augen an.
»Du brauchst hier nicht den Ahnungslosen zu mimen. Was verheimlichst du mir?« Sie nahm einen Schluck und wartete in Ruhe ab. Er wand sich wie ein Aal.
»Also …«
»Ja?« Erica musste sich eingestehen, dass ein kleiner sadistischer Teil von ihr seine Qualen genoss.
»Als ich mit Maja spazieren war, ist etwas passiert.«
»Ach. Was könnte das sein? Ihr seid wohlbehalten zurückgekehrt.«
»Tja …« Um Zeit zu gewinnen, trank Patrik etwas Tee. Wie drückte er es am besten aus? »Wir waren gerade auf dem Weg zu Lerstens Mühle, als plötzlich meine Kollegen an uns vorbeifuhren.« Er sah sie vorsichtig an. Erica zog eine Augenbraue hoch.
»Sie waren unterwegs zu einem Einsatz in Hamburgsund, weil dort jemand eine Leiche gefunden hatte.«
»Aha. Da du im Erziehungsurlaub bist, geht dich das ja gar nichts an.« Sie führte ihre Tasse fast bis zum Mund und starrte ihn ungläubig an.
»Damit willst du mir doch nicht etwa sagen, dass du …«
»Doch«, erwiderte Patrik mit etwas zu schriller Stimme und gesenktem Blick.
»Du warst mit Maja an einem Ort, wo eine Leiche gefunden wurde?« Ihre Augen durchbohrten ihn
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