Engel aus Eis
erinnern wollen. Ich sammle Dinge, die uns helfen, uns zu erinnern. Wahrscheinlich tue ich es auch, damit diese Sachen nicht in die Hände von Menschen geraten, die sie mit anderen Augen betrachten. Nämlich voller Bewunderung.«
Erica nickte. Manches konnte sie verstehen, manches nicht. Zum Abschied gaben sie sich die Hand.
Und nun war er tot. Ermordet. Vielleicht war es gar nicht lange nach ihrem Besuch passiert. Nach allem, was Patrik widerwillig berichtet hatte, musste er den ganzen Sommer tot dort gesessen haben.
Wieder fiel ihr der seltsame Tonfall in Eriks Stimme ein, als sie ihm am Telefon von dem Orden erzählte. Sie drehte sich zu Patrik um, der neben ihr auf dem Sofa saß und durch die Fernsehkanäle zappte.
»Weißt du, ob der Orden noch dort war?«
Patrik sah sie fragend an. »Keine Ahnung, daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Es waren jedenfalls keine Spuren eines Raubmords zu erkennen, und wer interessiert sich schon für ein altes Naziabzeichen. So außergewöhnlich sind die ja nun auch wieder nicht. Ich meine, es gab schließlich mehrere davon …«
»Ich weiß …«, sagte Erica zögerlich. Sie war immer noch verärgert. »Könntest du morgen deine Kollegen anrufen und nach dem Orden fragen?«
»Ich glaube, die haben was Besseres zu tun, als danach zu suchen. Wir sollten Eriks Bruder darum bitten. Das Ding ist bestimmt noch da.«
»Wo ist Axel eigentlich? Warum hat er seinen Bruder den ganzen Sommer lang nicht gefunden?«
Patrik zuckte mit den Schultern. »Wie du weißt, bin ich im Erziehungsurlaub. Ruf doch Mellberg an und frag ihn.«
»Sehr witzig.« Erica lächelte, aber die Unruhe ließ sie nicht los. »Findest du es nicht auch seltsam, dass Axel ihn nicht gefunden hat?«
»Ja, aber sagtest du nicht, er sei verreist gewesen, als du dort zu Besuch warst?«
»Doch. Erik sagte, sein Bruder sei im Ausland. Aber das war im Juni.«
»Warum denkst du überhaupt darüber nach?« Patrik wandte sich wieder dem Fernseher zu. Endlich zu Hause fing gerade an.
»Ich weiß auch nicht …« Mit leerem Blick starrte Erica auf den Bildschirm. Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum sie so beunruhigt war, aber Eriks Schweigen am Telefon ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie musste immer an den etwas schiefen und kratzigen Ton denken, in dem er sie bat vorbeizukommen. Irgendetwas, das mit dem Orden zusammenhing, hatte diese Reaktion hervorgerufen.
Sie versuchte, sich auf Martin Timells Tischlerarbeiten zu konzentrieren, doch es wollte ihr nicht recht gelingen.
»Das hättest du sehen sollen, Opa. Dieser Kanake wollte sich einfach vordrängeln, aber da hat er nicht mit mir gerechnet. Der ist beim ersten Tritt zu Boden gegangen wie eine morsche Kiefer. Dann habe ich ihm so in die Eier getreten, dass er noch eine Viertelstunde gewimmert hat.«
»Und was erreichst du damit, Per? Abgesehen davon, dass du wegen Körperverletzung verurteilt und ins Jugendgefängnis gesteckt werden kannst, wirst du die Gegenseite nur noch mehr gegen uns aufbringen. Am Ende hast du nicht unserer Sache gedient, sondern noch mehr Unterstützung für unsere Gegner mobilisiert.« Frans betrachtete nachdenklich seinen Enkelsohn. Wie ließen sich bloß die jugendlichen Hormone zügeln, die in dem unerfahrenen Jungen brodelten. Auch sein hartes Äußeres, die Armeehose, die schweren Stiefel und der rasierte Kopf konnten nicht verbergen, dass er nur ein schüchterner Fünfzehnjähriger war. Von der Sache hatte er keine Ahnung. Er wusste nicht, wie die Welt funktionierte, und auch nicht, wie man die destruktiven Impulse bündeln musste, damit sie die Gesellschaft wie eine Speerspitze durchdrangen.
Der Junge saß neben ihm auf der Treppe und ließ beschämt den Kopf hängen. Frans wusste, dass die harten Worte ihn getroffen hatten. Sein Enkel wollte ihn beeindrucken, aber er tat dem Jungen keinen Gefallen, wenn er ihm nicht klarmachte, wie die Realität aussah. Die Welt war kalt, hart und unversöhnlich, und nur die Stärksten gingen siegreich aus dem Kampf hervor.
Auf der anderen Seite liebte er den Jungen und wollte ihn vor allem Bösen beschützen. Frans legte ihm den Arm um die Schultern. Wie zart sie noch immer waren. Per hatte seinen Körperbau geerbt. Er war lang und schmal. Kein Krafttraining auf der Welt konnte das ändern.
»Du musst dir überlegen, was du tust«, sagte Frans sanfter. »Bevor du handelst. Kämpfe mit Worten und nicht mit den Fäusten. Gewalt ist nicht das erste Mittel, sondern das letzte.« Er
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