Engel aus Eis
wussten sie, dass sie sich liebten. Elsy stand auf der Veranda und goss die Blumen ihrer Mutter, als sie die finsteren Gesichter die Treppe heraufkommen sah. Sie wusste sofort, was los war. In der Küche hörte sie ihre Mutter mit dem Geschirr klappern. Ein Teil von ihr wollte am liebsten zu ihr rennen und sie wegschicken, bevor sie mit anhören musste, was sie nicht ertragen würde. Elsy wusste es. Doch sie sah ein, dass es sinnlos war. Auf steifen Beinen schritt sie zur Haustür und ließ die drei Männer herein, die von einem der anderen Fischerboote aus Fjällbacka kamen.
»Ist Hilma zu Hause?«, fragte der Älteste. Sie kannte ihn, er war der Kapitän. Mit einem Nicken ließ sie die Fischer herein. Vor Elsy gingen sie in die Küche, und als Hilma sich umdrehte und sie erblickte, ließ sie einen Teller fallen, der in tausend Teile zersprang.
»Nein, nein, guter Gott, nein!«
Elsy konnte ihre Mutter gerade noch auffangen, bevor sie fiel. Sie setzte sie auf einen Stuhl und hielt sie fest. Dabei hatte sie das Gefühl, ihr werde bei lebendigem Leibe das Herz herausgerissen. Die drei Männer standen verlegen am Tisch und trommelten mit den Fingern auf ihre Seemannsmützen. Schließlich ergriff der Kapitän das Wort.
»Es war eine Mine, Hilma. Wir haben von unserem Boot aus alles gesehen und fuhren sofort hin, aber … wir konnten nichts mehr tun.«
»O guter Gott«, wiederholte Hilma und rang nach Luft. »Und die anderen …«
Elsy war erstaunt, dass ihre Mutter sogar in einem solchen Augenblick nicht nur an sich dachte, doch dann sah auch sie selbst die Besatzung ihres Vaters vor sich. Die Männer, die sie so gut kannten und deren Familien nun die gleiche Nachricht erhielten.
»Es kann keiner überlebt haben.« Der Kapitän schluckte angestrengt. »Von dem Boot waren nur noch Wrackteile übrig. Wir sind lange geblieben und haben gesucht, aber niemand gefunden. Nur den jungen Oscarsson, doch der war schon tot, als wir ihn zu uns ins Boot hievten.«
Hilma liefen die Tränen übers Gesicht. Sie biss sich auf die Knöchel, damit der Schrei nicht herauskam. Elsy schluckte die Tränen runter und versuchte, stark zu sein. Wie sollte ihre Mutter das überleben? Und wie sollte sie selbst es schaffen? Ihr lieber, guter Vater. Immer freundlich und hilfsbereit. Wie sollten sie ohne ihn zurechtkommen?
Ein leises Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. Einer der Überbringer der Nachricht öffnete die Tür. Hans kam mit grauem Gesicht in die Küche.
»Ich habe … die Leute gesehen und gedacht … was …?« Er blickte zu Boden. Er wollte nicht stören, aber Elsy war froh, dass er da war.
»Vaters Boot ist auf eine Mine gelaufen«, sagte sie mit belegter Stimme. »Niemand hat überlebt.«
Hans schwankte. Dann ging er zu dem Schrank, in dem Elof die stärkeren Getränke verwahrte, stellte sechs Schnapsgläser auf den Tisch und schenkte sie voll.
»Ich dachte, wir könnten vielleicht eine Stärkung gebrauchen«, sagte er in seinem norwegischen Singsang, der immer schwedischer klang, je länger er bei ihnen wohnte.
Dankbar streckten alle außer Hilma die Hände nach den Gläsern aus. Elsy nahm behutsam ein Schnapsglas und stellte es vor ihre Mutter hin. »Trink das.« Hilma gehorchte ihrer Tochter, hob zitternd das Glas an die Lippen, verzog das Gesicht und trank den Schnaps in einem Zug aus. Elsy warf Hans einen dankbaren Blickzu. Es war ein gutes Gefühl, in so einem Moment nicht allein zu sein.
Wieder wurde angeklopft. Diesmal ging Hans an die Tür. Die Frauen trafen ein. Diejenigen, die selbst mit der ständigen Gefahr lebten, ihre Männer an das Meer zu verlieren. Die wussten, was Hilma jetzt durchmachte und dass sie gebraucht wurden. Sie brachten Essen mit, fleißige Hände und tröstende Worte über die unergründlichen Wege des Herrn. Das half. Nicht viel, aber auch sie würden diesen Trost vielleicht eines Tages benötigen, und so taten sie ihr Bestes, um den Schmerz der Leidensgenossin zu lindern, die es diesmal getroffen hatte.
Mit wundem und pochendem Herzen trat Elsy einen Schritt zurück und beobachtete, wie die Frauen sich um Hilma scharten, während die Männer, die die Nachricht überbracht hatten, sich verbeugten und auf den Weg zu den anderen Witwen machten.
Als die Nacht kam, schlief Hilma schließlich ermattet ein. Elsy lag in ihrem Bett und starrte an die Decke. Leer und unfähig, das Geschehene zu begreifen. Vor ihrem inneren Auge sah sie das Gesicht ihres Vaters. Er war immer für sie da gewesen.
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