Engel aus Eis
Tag, diese gesegneten Töchter. Es tat seinem Herzen so wohl, sie an seinem Bett sitzen zu sehen. Sie waren sich so ähnlich und doch so verschieden, und in jeder von ihnen konnte er Britta erkennen. Anna-Greta hatte ihre Nase, Birgitta ihre Augen und Margareta, die Jüngste, hatte dieselben Grübchen im Kinn wie Britta, wenn sie lächelte.
Herman schloss die Augen, um die Tränen aufzuhalten. Er hatte keine Kraft mehr zum Weinen. In ihm waren keine Tränen mehr. Doch er musste die Augen wieder öffnen, denn jedes Mal, wenn er sie schloss, sah er Britta unter dem Kissen vor sich. Er hätte es gar nicht wegzunehmen brauchen, um sicher zu sein, aber er hatte es trotzdem getan. Er wollte eine Bestätigung. Er wollte sehen, was er mit einer einzigen unüberlegten Handlung angerichtet hatte. Natürlich hatte er es begriffen. In dem Augenblick, als er durch die Schlafzimmertür ging und sie so still mit dem Kissen auf dem Gesicht daliegen sah, hatte er es verstanden.
Als er das Kissen wegnahm und ihr erstarrtes Gesicht sah, starb er. Genau in diesem Moment schied auch er aus dem Leben. Er konnte sich nur noch neben sie legen, sich ganz eng an sie schmiegen und die Arme um ihren Körper legen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, würde er noch immer dort liegen und seinen Gedanken freien Lauf lassen.
Herman starrte an die Decke und hing seinen Erinnerungen nach. An Sommertage, an denen sie mit dem Folkeboot in den Schären segelten, die Kinder saßen in der Mitte, und Britta hielt ganz vorn vor dem Windschutz das Gesicht in die Sonne. Die langen Beine hatte sie ausgestreckt, und die Haare hingen ihr blond und lang den Rücken hinunter. Er sah, wie sie die Augen öffnete, den Kopf zu ihm drehte und ihn glücklich anlächelte. Er winkte ihr von der Ruderpinne aus zu und spürte den Reichtum in seiner Brust.
Dann verfinsterte sich der Blick. Er dachte daran, wie sie ihm zum ersten Mal vom Unsagbaren erzählt hatte. An einem dunklen Winternachmittag, als die Mädchen in der Schule waren. Sie sagte, er solle sich setzen, sie müsse mit ihm sprechen. Fast wäre ihm das Herz stehengeblieben, und sein erster Gedanke war, das musste er zu seiner Schande gestehen, sie hätte einen anderen kennengelernt und wollte ihn verlassen. Daher hatte ihn das, was dann kam, fast erleichtert. Er hörte zu. Sie sprach. Lange. Und als es Zeit war, die Mädchen abzuholen, einigten sie sich darauf, nie wieder darüber zu reden. Was geschehen war, konnte man nicht mehr ändern. Er sah sie nicht anders als vorher. Seine Gefühle für sie veränderten sich nicht, und er sprach nicht anders mit ihr. Wie sollte er? Wie hätte er die Bilder von gemächlich und glücklich dahinfließenden Tagen und wunderbaren Nächten verdrängen sollen? Damit konnte sich das andere nicht messen. Bei weitem nicht. Deswegen vereinbarten sie, es nicht mehr zu erwähnen.
Doch die Krankheit veränderte alles. Sie raste durch ihr Leben wie ein Taifun und riss alles mit der Wurzel aus. Er ließ sich mitreißen. Beging einen Irrtum. Einen einzigen verhängnisvollen Fehler. Er machte einen Anruf, den er lieber gelassen hätte. Doch er war naiv gewesen. Er hatte geglaubt, es wäre Zeit, das Muffige und Verfaulte auszulüften. Er dachte, wenn Britta erkennen würde, wie belastend das war, was sich in der hintersten Ecke ihrer Gehirne verbarg, würde es auf der Hand liegen, dass es nun so weit war. Dass die Zeit gekommen war. Dass es falsch war, noch länger dagegen anzukämpfen. Das Alte musste ans Licht, damit sie ihren Seelenfrieden finden konnten. Damit in Brittas Seele endlich wieder Ruhe einkehrte. O Gott, wie naiv! Er hätte das Kissen auch gleich selbst auf ihr Gesicht drücken können, das wusste er. Und dieser Schmerz war unerträglich. Herman schloss die Augen, um ihn von sich fernzuhalten. Diesmal blieb ihm derAnblick ihrer toten Augen erspart, bevor er sie behutsam schloss. Stattdessen sah er sie in dem Krankenhausbett vor sich. Blass und müde, aber glücklich. Mit Anna-Greta im Arm. Sie winkte ihm zu und forderte ihn auf, näher zu kommen.
Mit einem letzten Seufzer ließ er los, was so weh tat, und ging lächelnd auf die beiden zu.
Patrik starrte mit leerem Blick vor sich hin. Konnte Erica recht haben? Es klang vollkommen wahnsinnig, aber trotzdem … logisch. Er seufzte, als ihm bewusst wurde, was für eine schwere Aufgabe ihm bevorstand.
»Komm, Süße, wir machen einen Ausflug.« Er nahm Maja auf den Arm und trug sie in den Flur. »Und unterwegs holen wir Mama
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