Engel aus Eis
Hatte ihr zugehört und mit ihr gesprochen. Sie war sein Augenstern gewesen, das hatte sie immer gespürt. Ihm hatte sie mehr bedeutet als alles andere. Sie wusste auch, dass er gemerkt hatte, dass sich zwischen ihr und dem jungen Norweger, der ihm immer sympathischer wurde, etwas anbahnte. Er hatte sich nicht eingemischt, hatte zwar ein wachsames Auge auf sie gehabt, aber sein stilles Einverständnis gegeben und vielleicht gehofft, Hans würde irgendwann sein Schwiegersohn werden. Elsy glaubte, dass er nichts dagegen gehabt hätte, aber sie und Hans hatten Rücksicht auf ihn und ihre Mutter genommen. Sie hatten es bei heimlichen Küssen und vorsichtigen Umarmungen belassen und nichts getan, wonach sie ihren Eltern nicht mehr in die Augen hätten sehen können.
Doch als sie nun hier lag und an die Decke starrte, spielte das keine Rolle mehr. Der Schmerz in ihrer Brust war so groß, dass sie ihn allein nicht ertragen konnte. Zaghaft stellte sie die Füße auf den Boden. In ihr regten sich immer noch Zweifel, aber dieQualen zerrissen ihr fast das Herz und trieben sie dazu, den einzigen Trost zu suchen, den sie bekommen konnte.
Vorsichtig schlich sie die Treppe hinunter. Sie warf einen Blick in das Schlafzimmer ihrer Eltern und verspürte einen Stich, als ihr auffiel, wie klein ihre Mutter allein in dem großen Bett aussah. Aber immerhin schlief sie tief und fest und wurde für einen Moment von der Wirklichkeit verschont.
Die Haustür quietschte ein wenig, als sie den Schlüssel herumdrehte. Die Nachtluft war so kalt, dass sie ihr den Atem nahm, als sie nur im Nachthemd barfuß die eiskalten Steinstufen hinunterging. Vor seiner Tür hielt sie inne, doch sie zögerte nur einen kurzen Augenblick. Der Schmerz drängte sie, Trost zu suchen.
Er öffnete beim ersten leisen Klopfen. Trat zur Seite und ließ sie wortlos herein. Dann stand sie im Nachthemd in seinem Zimmer, ohne etwas zu sagen, und sah ihm in die Augen. Sein Blick brachte eine stumme Frage zum Ausdruck. Sie beantwortete sie, indem sie seine Hand nahm.
Für einige gesegnete Momente in dieser Nacht konnte sie den Schmerz in ihrer Brust vergessen.
N ach dem Treffen mit seinem Vater war Kjell seltsam aufgewühlt. In all den Jahren war es ihm gelungen, am Status quo nicht zu rühren und den Hass am Leben zu erhalten. Es war so einfach gewesen, nur das Negative zu sehen und sich auf die Fehler zu konzentrieren, die Frans in seiner Kindheit gemacht hatte. Aber vielleicht war nicht alles schwarz oder weiß. Er schüttelte sich, um den Gedanken wieder loszuwerden. Es war viel leichter, keine Grauzonen, sondern nur Richtig oder Falsch zu sehen. Doch heute hatte Frans so alt und zerbrechlich gewirkt. Kjell war zum ersten Mal bewusst geworden, dass sein Vater nicht ewig leben und seinen Hass binden würde. Eines Tages würde sein Vater von ihm gehen, und dann musste er sich selbst in die Augen sehen. Tief im Innern wusste er, dass sein Hass so lichterloh brannte, weil noch immer die Möglichkeit bestand, die Hand auszustrecken und den ersten Schritt zur Versöhnung zu machen. Er wollte es nicht tun und verspürte auch nicht den Wunsch danach, aber die Möglichkeit existierte, und das hatte ihm stets ein Machtgefühl verliehen. Wenn sein Vater starb, war es zu spät. Dann war nur noch ein Leben voller Hass übrig. Sonst nichts.
Mit zitternder Hand griff er nach dem Hörer, um einige Telefonate zu erledigen. Erica hatte zwar gesagt, sie wolle bei den Behörden nachfragen, aber er war es nicht gewöhnt, sich auf andere zu verlassen. Besser, er überprüfte die Sache selbst. Eine Stunde und fünf Anrufe in Schweden und Norwegen später musste ersich jedoch eingestehen, dass bei seinen Nachforschungen nichts Konkretes herausgekommen war. Kein Zweifel, es war schwierig, wenn man nur einen Namen und das ungefähre Alter hatte, aber es gab immer Mittel und Wege. Noch waren nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, und er hatte immerhin mit ziemlicher Sicherheit herausgefunden, dass der Norweger nicht in Schweden geblieben war. Blieb noch die wahrscheinlichste Möglichkeit, dass er in seine Heimat zurückgekehrt war, als der Krieg zu Ende war und für ihn keine Gefahr mehr bestand.
Er griff nach dem Hefter mit den Artikeln und merkte plötzlich, dass er vergessen hatte, Eskil Halvorsen ein Foto von Hans Olavsen zu faxen. Er griff noch einmal zum Telefon, um ihn nach der Faxnummer zu fragen.
»Ich habe leider noch nichts gefunden«, sagte Halvorsen sofort. Kjell beeilte sich,
Weitere Kostenlose Bücher