Engel aus Eis
kommen würde. Das Gefühl, pressen zu müssen, wurde immer stärker. Sie holte tief Luft.
»So, jetzt drück, so fest du kannst.« Die Hebamme ließ keinen Zweifel daran, dass das ein Befehl war. Elsy legte das Kinn auf die Brust und presste. Sie hatte nicht das Gefühl, dass irgendetwas passierte, aber das leichte Nicken der Hebamme gab ihr zu verstehen, dass sie es richtig gemacht hatte.
»Warte bis zur nächsten Wehe«, sagte sie barsch, und Elsy gehorchte. Sie spürte, wie sich der Druck steigerte, und als es am schlimmsten war, wurde sie wieder aufgefordert zu pressen. Diesmal spürte sie, wie sich etwas löste. Es war schwer zu beschreiben, aber es fühlte sich an, als ob irgendetwas nachgab.
»Der Kopf ist jetzt draußen. Noch eine Wehe, dann …«
Elsy machte einen Moment die Augen zu, sah aber nur Hans vor sich. Da sie jetzt nicht um ihn trauern konnte, öffnete sie die Augen wieder.
»Jetzt!« Die Hebamme stand zwischen Elsys Schenkeln. Elsy zog die Beine an, drückte das Kinn auf die Brust und presste mit ganzer Kraft.
Etwas Nasses und Glitschiges flutschte aus ihr heraus. Erschöpft fiel sie auf das schweißdurchtränkte Laken zurück. Im ersten Moment war sie erleichtert, dass die peinigenden Stunden vorüber waren. Sie war auf eine Art müde, wie sie es noch nie erlebt hatte. Jeder Teil ihres Körpers war vollkommen ermattet, und sie konnte sich nicht einen Millimeter von der Stelle rühren. Bis sie den Schrei hörte. Es war ein zorniger, gellender Schrei, der sie veranlasste, sich mühsam auf die Ellbogen zu stützen, um seinen Ursprung zu betrachten.
Als sie ihn erblickte, schluchzte sie auf. Er war … perfekt. Klebrig, blutig und wütend über die Kälte, aber perfekt. Als ihr klar wurde, dass sie ihn heute zum ersten und letzten Mal sah,sackte sie zurück in die Kissen. Die Hebamme schnitt die Nabelschnur durch und wusch ihn sorgfältig mit einem Läppchen. Dann zog sie ihm ein Säuglingshemdchen mit Bordüre an, das Edith aus ihrem Kleiderschrank geholt hatte. Niemand beachtete Elsy, doch sie konnte die Augen nicht von dem Jungen abwenden. Ihr Herz schien vor Liebe zerspringen zu wollen, und ihre Augen nahmen gierig jede Einzelheit auf. Erst als Edith Anstalten machte, mit ihm den Raum zu verlassen, meldete sie sich zu Wort.
»Ich will ihn halten!«
»Das ist unter diesen Umständen nicht zu empfehlen«, erwiderte die Hebamme verärgert und wollte Edith hinausscheuchen, doch die Tante zögerte.
»Bitte, ich möchte ihn nur auf den Arm nehmen. Nur eine Minute. Dann kannst du ihn mitnehmen.« Elsy sprach in herzerweichendem Ton, und Edith konnte nicht widerstehen. Sie legte den Jungen in Elsys Arme. Vorsichtig hielt seine Mutter ihn fest und sah ihm in die Augen.
»Na, mein Liebling«, flüsterte sie und wiegte ihn behutsam.
»Sein Hemdchen wird schmutzig«, brummte die Hebamme wütend.
»Ich habe noch mehr davon.« Edith brachte sie mit einem strengen Blick zum Schweigen.
Elsy konnte sich nicht an ihm sattsehen. Er fühlte sich warm und schwer an. Fasziniert betrachtete sie die kleinen Finger mit den winzigen perfekten Nägeln.
»Ein hübscher Junge.« Edith stellte sich neben sie.
»Er sieht seinem Vater ähnlich.« Elsy lächelte, als er ihren Zeigefinger umklammerte.
»Jetzt musst du ihn hergeben. Er braucht etwas zu essen.« Die Hebamme entriss ihr den Jungen. Im ersten Moment wollte sie sich instinktiv wehren, ihn wieder an sich drücken und dann nie wieder loslassen, doch der Augenblick verstrich. Mit heftigen Bewegungen zog die Hebamme ihm das blutverschmierte Hemdchen aus und ein frisches an. Dann reichte sie ihn an Edith weiter, die ihn nach einem letzten Blick zu Elsy aus dem Zimmer trug.
In diesem Moment ging etwas in Elsy kaputt. Als sie ihren Sohn zum letzten Mal sah, wurde tief in ihrem Herzen etwas in Stücke gerissen. Sie wusste, dass sie einen solchen Schmerz nicht noch einmal überleben würde. Als sie da mit leerem Bauch und leeren Armen in dem verschwitzten und beschmutzten Bett lag, beschloss sie, sich einer solchen Pein im ganzen Leben nicht mehr auszusetzen. Nie wieder würde sie jemandem ihr Herz öffnen. Niemals. Unter Tränen gab sie sich selbst dieses Versprechen, während die Hebamme sie unsanft von der Nachgeburt befreite.
M artin!«
»Paula!«
Die Rufe ertönten genau im selben Moment. Offensichtlich hatten sich beide wegen einer dringenden Angelegenheit auf den Weg zum anderen gemacht. Nun standen sie im Flur und starrten sich mit geröteten
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