Engel aus Eis
hast.«
Kristina saß lange schweigend da und starrte auf den Tisch. Patrik bemühte sich, die beiden nicht anzusehen, sondern sich auf die Zimtschnecken zu konzentrieren, die er und Maja verdrückten. Schließlich stand Kristina auf und ging ins Wohnzimmer. Erica blickte ihr hinterher und wagte kaum zu atmen. Sie hörte, wie eine Schranktür geöffnet und wieder geschlossen wurde, und einen Moment später kam Kristina zurück in die Küche. In den Händen hielt sie drei blaue Notizbücher. Sie sahen genauso aus wie die bei Erica zu Hause.
»Ich habe Elsy versprochen, sie aufzubewahren. Sie wollte nicht, dass du und Anna sie entdeckt, aber ich nehme an …«, nach kurzem Zögern reichte Kristina ihr die Bücher, »irgendwann müssen die Dinge ans Licht, und ich glaube, die Zeit ist jetzt reif. Elsy wäre bestimmt damit einverstanden.«
Erica nahm die Bände entgegen und strich sanft mit der Hand darüber.
»Danke.« Sie sah Kristina an. »Weißt du, was darin steht?«
Kristina schien nicht genau zu wissen, wie sie die Frage beantworten sollte.
»Ich habe sie nicht gelesen, aber ich weiß vieles von dem, was Elsy erlebt hat.«
»Ich setze mich hierhin.« Am ganzen Leib zitternd, ging Erica in Kristinas Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Vorsichtig schlug sie die erste Seite auf und begann zu lesen. Ihre Augen rasten über die Zeilen und die mittlerweile so vertraute Handschrift. Endlich bekam sie einen tiefen Einblick in das Schicksal ihrer Mutter und somit auch in ihr eigenes. Mit steigender Verwunderung und Bestürzung vertiefte sie sich in die Liebesgeschichte von Hans Olavsen und ihrer Mutter und erfuhr von Elsys Entdeckung, dass sie schwanger war. Im dritten Tagebuch war sie bei seiner Abreise nach Norwegen angekommen. Bei seinem Versprechen. Ericas Finger zitterten immer heftiger. Als sie von den Tagen und Wochen las, die ohne eine Nachricht von ihm verstrichen, konnte sie die wachsende Panik ihrer Mutter körperlich nachempfinden. Als sie auf der letzten Seite angekommen war, begann sie zu weinen und konnte nicht mehr aufhören. Durch einen Tränenschleier las sie, was ihre Mutter geschrieben hatte:
Heute bin ich mit dem Zug nach Borlänge gefahren. Mutter kam nicht an den Bahnsteig, um mir zum Abschied zu winken. Es wird allmählich schwierig, meinen Zustand zu verbergen. Diese Schande möchte ich Mutter ersparen. Es ist schwer genug für mich selbst, damit zu leben. Aber ich habe zu Gott gebetet, damit er mir die Kraft gibt, es zu schaffen. Die Kraft, den Menschen loszulassen, den ich noch nie gesehen habe, und doch so innig liebe …
Borlänge 1945
E r kam nie zurück. Zum Abschied hatte er sie geküsst und gesagt, er wäre bald wieder da. Sie hatte gewartet. Am Anfang in fester Überzeugung und dann mit leichter Unruhe, die sich zu einer immer heftigeren Panik steigerte. Denn er kam nie wieder. Er hatte sein Versprechen nicht eingehalten und sie und das Kind im Stich gelassen. Dabei war sie sich so sicher gewesen. Sie wäre gar nicht auf die Idee gekommen, sein Versprechen in Frage zu stellen, sondern hatte es für selbstverständlich erachtet, dass er sie genauso liebte wie sie ihn. Naives, dummes Mädel. Wie viele Mädchen auf der Welt waren bereits auf diesen alten Trick hereingefallen?
Als man es nicht länger verbergen konnte, musste sie zu ihrer Mutter gehen. Ohne Hilma in die Augen sehen zu können, erzählte sie ihr alles. Dass sie sich hatte täuschen lassen, dass sie ihm geglaubt hatte und dass sie nun ein Kind im Bauch hatte. Zu Beginn sagte ihre Mutter gar nichts. Ein totes, kaltes Schweigen breitete sich in der Küche aus. Erst jetzt krallte sich die Angst in Elsys Herz richtig fest. Bis jetzt hatte sie noch ein klein wenig Hoffnung gehabt, Mutter würde sie in den Arm nehmen, sie sanft wiegen und sagen: »Liebes Kind, wir finden eine Lösung. Es gibt bestimmt einen Ausweg.« Die Mutter, die sie vor dem Tod ihres Vaters gehabt hatte, hätte sich so verhalten. Sie hätte die Kraft gehabt, sie trotz der Schande zu lieben. Aber ohne Vater war Mutter nicht mehr sie selbst. Ein Teil von ihr war mit ihm gestorben, und der Rest war nicht stark genug.
Also hatte sie stattdessen wortlos eine Tasche mit dem Allernötigsten für Elsy gepackt. Dann hatte sie ihre sechzehnjährige schwangere Tochter mit einem handgeschriebenen Brief in der Tasche in einen Zug nach Borlänge gesetzt. Dort wohnte ihre Schwester auf einem Bauernhof. Sie konnte sich nicht einmal überwinden, sie zum Bahnhof zu
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