Engel aus Eis
so viele Details wie Erica, aber Kristina hatte ihm von dem Kind erzählt, das Elsy zur Adoption freigegeben hatte.
Zuerst hatte er eine gewisse Wut auf seine Mutter empfunden. Wie hatte sie das vor Erica verschweigen können? Vor Anna natürlich auch. Doch allmählich konnte er die Sache aus ihrem Blickwinkel betrachten. Sie hatte Elsy versprochen, nichts zu erzählen, sie hatte einer Freundin ein Versprechen gegeben und es gehalten. Sie hatte manchmal in Erwägung gezogen, Erica und Anna zu erzählen, dass sie einen Bruder hatten, doch sie hatte Angst vor den Konsequenzen, und so kam sie immer wieder zu dem Schluss, dass es am besten sei, die Sache auf sich beruhenzu lassen. Ein Teil von Patrik wollte gegen diese Entscheidung protestieren, aber er glaubte ihr, dass sie der festen Überzeugung gewesen war, das Richtige zu tun.
Doch nun war das Geheimnis ans Licht gekommen, und er merkte Kristina an, dass sie erleichtert war. Nur fragte er sich, wie seine Ehefrau auf die Neuigkeit reagieren würde. Im Grunde ahnte er es schon. Inzwischen kannte er Erica gut genug, um zu wissen, dass sie alle Hebel in Bewegung setzen würde, um ihren Bruder zu finden. Er drehte sich zu ihr um und betrachtete ihr Profil. Sie starrte noch immer mit leerem Blick hinaus. Auf einmal wurde ihm schlagartig bewusst, wie sehr er sie liebte. Man vergaß es so leicht. Das Leben bestand oft nur aus dringenden Erledigungen, und im Alltagstrott vergingen die Tage einfach. Doch in manchen Augenblicken, so wie jetzt, da spürte er mit fast beängstigender Wucht, dass sie zusammengehörten und wie gern er jeden Morgen neben ihr aufwachte.
Zu Hause ging Erica sofort ins Arbeitszimmer. Noch immer hatte sie kein Wort gesagt und zeigte keine Regung. Nur diesen abwesenden Gesichtsausdruck. Patrik räumte ein wenig herum und brachte Maja ins Bett, damit sie ihren Mittagsschlaf hielt. Erst dann wagte er, sie zu stören.
Vorsichtig klopfte er an. »Darf ich reinkommen?« Erica drehte sich um und nickte. Sie war immer noch etwas blass, wirkte aber nicht mehr ganz so abwesend.
»Wie fühlst du dich?« Er setzte sich in den Sessel in der Ecke.
»Wenn ich ehrlich sein soll, weiß ich es nicht genau.« Sie holte tief Luft. »Durcheinander.«
»Bist du wütend auf meine Mutter? Weil sie nichts gesagt hat?«
Erica überlegte einen Moment, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, das bin ich nicht. Sie hat es meiner Mutter versprochen. Außerdem kann ich verstehen, dass sie Angst hatte, damit noch mehr Schaden anzurichten.«
»Wirst du es Anna erzählen?«
»Ja, natürlich. Sie hat auch ein Recht, es zu erfahren. Aber zuerst muss ich es selbst verdauen.«
»Ich nehme an, die Recherche hat bereits begonnen.« Lächelnddeutete Patrik auf den Bildschirm mit der geöffneten Suchmaschine.
»Na klar.« Erica grinste matt zurück. »Ich habe mich über Möglichkeiten informiert, Adoptionen zurückzuverfolgen. Es wird bestimmt kein Problem sein, ihn zu finden.«
»Ist das nicht ein bisschen unheimlich?«, fragte Patrik. »Du hast doch gar keine Ahnung von ihm und seinem Leben.«
»Total unheimlich«, nickte Erica. »Aber nichts zu wissen ist noch schlimmer. Irgendwo da draußen habe ich einen Bruder. Ich habe mir immer einen großen Bruder gewünscht.« Sie verzog das Gesicht zu einem tapferen Lächeln.
»Deine Mutter muss oft an ihn gedacht haben. Verändert das dein Bild von ihr?«
»Natürlich«, antwortete sie. »Ich kann zwar nicht behaupten, dass ich es richtig finde, wie sie mich und Anna auf Distanz gehalten hat, aber …« Sie suchte nach Worten. »Aber ich kann verstehen, dass sie nicht mehr den Mut hatte, jemanden an sich heranzulassen. Stell dir das mal vor! Zuerst wird man vom Vater seines Kindes verlassen, denn das dachte sie ja schließlich, und dann wird man gezwungen, das Kind abzugeben. Sie war erst sechzehn! Ich kann mir gar nicht ausmalen, wie schmerzhaft das alles für sie gewesen sein muss. Außerdem hatte sie kurz zuvor ihren Vater verloren – und dadurch praktisch auch ihre Mutter. Nein, ich kann ihr keine Vorwürfe machen. So gerne ich es tun würde, es geht nicht.«
»Hätte sie doch nur gewusst, dass Hans sie nicht im Stich gelassen hat.« Patrik schüttelte den Kopf.
»Ja, das ist fast die größte Grausamkeit daran. Er hat Fjällbacka nie verlassen – und sie auch nicht. Stattdessen wurde er erschlagen.« Ericas Stimme versagte. »Warum? Warum wurde er ermordet?«
»Möchtest du, dass ich Martin anrufe und ihn frage, ob
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