Engel aus Eis
begleiten und ihr hinterherzuwinken, sondern sagte nur kurz im Hausflur Lebwohl und verschwand in der Küche. Die offizielle Version lautete, Elsy sei abgereist, um die Hauswirtschaftsschule zu besuchen.
Seitdem waren fünf Monate vergangen. Es war keine leichte Zeit gewesen. Obwohl nicht nur ihr Bauch, sondern auch ihr gesamter Körper von Woche zu Woche schwerer wurde, musste sie genauso hart arbeiten wie alle anderen auf dem Hof. Von früh bis spät rackerte sie sich mit all den Pflichten ab, die ihr auferlegt wurden, während die Last in ihrem Bauch, die nun zu strampeln begonnen hatte, ihr immer stärkere Rückenschmerzen bereitete. Eine Stimme in ihr wollte das Kind hassen. Aber es gelang ihr nicht. Es war ein Teil von ihr und von Hans, und selbst den konnte sie nicht richtig hassen. Wie sollte sie denn etwas verabscheuen, was sie beide verband? Doch es war bereits alles arrangiert. Man würde ihr das Kind gleich nach der Geburt wegnehmen und zur Adoption freigeben. Hilmas Schwester Edith sagte, es gebe keine andere Möglichkeit. Ihr Mann Anton hatte alles Praktische in die Wege geleitet und murmelte dabei ständig etwas von der Schande vor sich hin, dass die Nichte seiner Frau für den Erstbesten die Beine breitgemacht hatte. Elsy konnte nicht widersprechen. Sie ließ die Beschimpfungen klaglos über sich ergehen, denn sie hatte auch keine Erklärung. Es ließ sich ja nicht leugnen, dass Hans nicht zurückgekommen war. Obwohl er es versprochen hatte.
Die Wehen setzten früh am Morgen ein. Zuerst dachte sie, die üblichen Rückenschmerzen hätten sie vorzeitig geweckt. Doch der Schmerz kam und ging und wurde immer schlimmer. Nachdem sie sich zwei Stunden im Bett gewälzt hatte, begriff sie langsam, was los war, und rappelte sich mühsam auf. Mit beiden Händen im Kreuz tappte sie ins Schlafzimmer von Edith und Anton und weckte vorsichtig die Tante. Dann kam Hektik auf. Manbefahl ihr, sich wieder ins Bett zu legen, und die älteste Tochter wurde losgeschickt, um die Hebamme zu holen. Man brachte Wasser zum Kochen und legte saubere Handtücher bereit. Elsy packte die Angst.
Nach zehn Stunden wurden die Schmerzen unerträglich. Die Hebamme war bereits vor Stunden eingetroffen und hatte sie mit groben Handbewegungen untersucht. Dabei verhielt sie sich schroff und zeigte deutlich, was sie von jungen unverheirateten Mädchen hielt, die Kinder bekamen. Elsy fühlte sich wie in Feindesland. Niemand hatte ein nettes Wort oder Lächeln für sie übrig, und sie lag im Bett und hatte das Gefühl, sie müsste sterben. So weh tat es. Jedes Mal, wenn die Schmerzwelle über sie hereinbrach, klammerte sie sich an den Bettpfosten und biss die Zähne zusammen. Sie hatte das Gefühl, in der Mitte durchgerissen zu werden. Am Anfang konnte sie sich zwischen den Wogen ein bisschen ausruhen, ein paar Minuten, in denen sie verschnaufte und wieder Kraft schöpfte. Doch nun folgten die Wehen so kurz aufeinander, dass sie überhaupt keine Atempause mehr hatte. Immer wieder kam ihr der Gedanke: Jetzt sterbe ich.
Durch die Nebelschwaden aus Schmerz hindurch merkte sie, dass sie es offenbar laut gesagt hatte, denn die Hebamme zischte: »Sie soll sich nicht so anstellen. In diese Lage hat sie sich selbst gebracht, also darf sie sich nicht beklagen. Vergiss das nicht, Mädchen.«
Elsy hatte keine Kraft zu protestieren. Als wieder der Schmerz von ihrem Zwerchfell in die Beine schoss, klammerte sie sich so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Nie hätte sie gedacht, dass es solche Qualen überhaupt gab. Der Schmerz war überall, er drängte sich in jede Faser und jede Zelle ihres Körpers. Langsam wurde sie müde. Sie kämpfte schon so lange mit dem Schmerz, dass ein Teil von ihr nur noch aufgeben wollte. Am liebsten hätte sie sich auf den Rücken gelegt, sich dem Schmerz hingegeben und ihm gestattet, mit ihr zu machen, was er wollte. Aber sie wusste, dass sie das nicht tun durfte. Dieses Kind von ihr und Hans musste hinaus, und sie würde es zur Welt bringen, auch wenn es das Letzte war, was sie in diesem Leben schaffte.
Nun mischte sich eine neue Art von Schmerz in den bereits vertrauten. Sie spürte einen Druck. Die Hebamme warf der Tante neben dem Bett einen zufriedenen Blick zu und nickte kurz.
»Jetzt ist es bald vorbei.« Sie drückte auf Elsys Bauch. »Wenn ich es dir sage, musst du so stark wie möglich pressen. Dann ist das Kind bald da.«
Elsy gab keine Antwort, aber sie nahm die Worte wahr und wartete auf das, was da
Weitere Kostenlose Bücher