Engel aus Eis
auf ihrer bevorzugten Strecke – nicht gesehen. Er hatte Sehnsucht nach ihr. Die Intensität seiner Empfindungen überraschte ihn, aber er konnte die Augen nicht länger davor verschließen, dass sie ihm wirklich fehlte. Offenbar gingen die Emotionen von Ernst in die gleiche Richtung, denn er hatte heftig an der Leine gezerrt und ihn mehr oder weniger zu Ritas Haus geschleift. Mellberg hatte nicht unbedingt Widerstand geleistet. Nun wurde er unsicher. Zum einen wusste er nicht, ob sie zu Hause war, und außerdem verspürte er plötzlich eine ganz untypische Schüchternheit. Er hatte Angst, aufdringlich zu erscheinen. Schließlich schüttelte er das ungewohnte Gefühl ab und drückte auf die Klingel. Es kam keine Antwort. Er wollte gerade wieder gehen, als aus der knisternden Sprechanlage ein Keuchen drang.
»Hallo?« Er drehte sich wieder um. »Hier ist Bertil Mellberg.«
Zuerst hörte er nichts, dann wurde gewispert: »Komm rauf!« Anschließend ein Stöhnen. Er runzelte die Stirn. Merkwürdig. Mit Ernst im Schlepptau ging er die zwei Treppen zu Ritas Wohnung hoch. Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Er trat ein.
»Hallo?«, rief er vorsichtig. Stille. Dann vernahm er ganz in derNähe ein Ächzen. Als er sich in diese Richtung wandte, erblickte er eine liegende Gestalt auf dem Fußboden.
»Es … geht los …« Johanna hatte sich zu einer Kugel zusammengerollt und rang keuchend mit einer Wehe.
»O mein Gott!« Mellberg stand augenblicklich der Schweiß auf der Stirn. »Wo ist Rita? Ich rufe sie an! Wir müssen sofort Paula holen … und einen Krankenwagen …«, stotterte er und blickte sich nach dem Telefon um.
»Die gehen … nicht ran …«, stöhnte Johanna, konnte aber nicht weitersprechen, solange die Wehe noch nicht abgeklungen war. Mühsam zog sie sich an der Garderobe hoch, hielt sich den Bauch und starrte Bertil an.
»Denkst du, ich hätte nicht versucht, sie zu erreichen? Keiner meldet sich! Ist es denn so schwer … Scheiße, verdammte …« Die kräftigen Flüche wurden von einer neuen Wehe unterbrochen. Sie fiel wieder auf die Knie und atmete hastig ein und aus.
»Bring mich … ins Krankenhaus.« Angestrengt zeigte sie auf den Autoschlüssel auf der Kommode. Mellberg starrte ihn an, als könnte er sich jeden Moment in eine aggressive Giftschlange verwandeln, doch dann nahm er ihn in Zeitlupe an sich. Ohne zu wissen, woher die plötzliche Tatkraft kam, schleppte er Johanna zum Parkplatz und bugsierte sie auf die Rückbank. Ernst musste in der Wohnung bleiben. Mit Bleifuß raste Mellberg zum Norra-Älvsborgs-Krankenhaus. Als die Laute, die Johanna von sich gab, immer angestrengter klangen, war er der Panik nah. Die gut achtzig Kilometer zu dem Krankenhaus zwischen Vänersborg und Trollhättan erschienen ihm unendlich, doch schließlich schlitterte er vor die Einfahrt der Entbindungsklinik und musste Johanna wieder fast tragen. Mit vor Angst weit aufgerissenen Augen ließ sie sich zur Anmeldung schleifen.
»Sie bekommt ein Kind«, sagte Mellberg zu der Krankenschwester hinter der Glasscheibe, die diese Mitteilung nach einem Blick auf Johanna als überflüssig einstufte.
»Mitkommen!«, kommandierte sie und führte sie in ein Nebenzimmer.
»Ich werde mich … jetzt zurückziehen …«, stammelte Mellberg, als Johanna befohlen wurde, die Hose auszuziehen.
Dochin dem Moment, als er entwischen wollte, krallte sich Johanna in seinen Arm und ächzte unter Schmerzen: »Du … bleibst … hier … Wehe … du … gehst …«
»Aber …«, wollte Mellberg protestieren, sah dann jedoch ein, dass er sie jetzt nicht allein lassen konnte. Seufzend setzte er sich auf einen Stuhl und bemühte sich, in eine andere Richtung zu sehen, während Johanna gründlich untersucht wurde.
»Sieben Zentimeter offen.« Die Hebamme sah Mellberg an, als könnte er mit dieser Information etwas anfangen. Er nickte, fragte sich jedoch insgeheim, was das zu bedeuten hatte. War es gut? Oder schlecht? Wie viele Zentimeter waren überhaupt notwendig? Mit wachsendem Entsetzen wurde ihm bewusst, dass er noch vor Ende dieses Erlebnisses nicht nur das, sondern noch viel mehr erfahren würde.
Er zog das Mobiltelefon aus der Tasche und wählte noch einmal Paulas Nummer, doch es meldete sich nur die Mailbox. Dasselbe bei Rita. Was waren das eigentlich für Menschen? Wie konnten sie ihr Telefon ausschalten, wenn Johanna jeden Moment ein Baby bekam. Mellberg steckte das Handy wieder in die Tasche und überlegte, ob er sich nicht
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