Engel aus Eis
doch in einem unbeobachteten Moment davonstehlen sollte.
Zwei Stunden später war er noch immer nicht entkommen. Sie waren in einen Kreißsaal verlegt worden, und Johanna klammerte sich an ihn wie eine Eisenzange. Irgendwie tat sie ihm leid. Er hatte sich inzwischen erklären lassen, dass aus diesen sieben Zentimetern zehn werden mussten, aber die letzten drei ließen sich ziemlich viel Zeit. Johanna hielt sich fleißig die Lachgasmaske vors Gesicht, und Mellberg hätte auch gerne einen Zug genommen.
»Ich kann nicht mehr …« Johannas Blick war vom Lachgas verschleiert. Das schweißnasse Haar klebte ihr am Kopf. Mellberg griff nach einem Handtuch und tupfte ihr die Stirn ab.
»Danke …« Ihr Blick ließ ihn jeden Gedanken an Flucht vergessen. Mellberg konnte nicht verhehlen, dass das, was sich vor seinen Augen abspielte, ihn in gewisser Hinsicht faszinierte. Er hatte zwar gewusst, dass die Geburt eines Kindes ein schmerzhafter Prozess war, aber ihm war nicht klar gewesen, welchenübermenschlichen Kraftakt es erforderte, ein Kind zur Welt zu bringen. Zum ersten Mal im Leben empfand er eine tiefe Ehrfurcht vor dem weiblichen Geschlecht. Eins stand fest: Er hätte das nie geschafft.
»Ruf … noch mal an …«, schnaufte Johanna und sog gierig das Lachgas ein, als die Maschine, die mit dem Ding auf ihrem Bauch verbunden war, eine kräftige Wehe anzeigte.
Mellberg befreite seine Hand und wählte zum hundertsten Mal die beiden Nummern, doch noch immer ging niemand ans Telefon. Bedauernd schüttelte er den Kopf.
»Wo stecken …« Als die nächste Wehe über sie hereinbrach, gingen ihre Worte in ein Jammern über.
»Bist du sicher, dass du nicht diese … POK willst, die sie dir angeboten haben?«, fragte Mellberg besorgt und wischte Johanna erneut die Schweißperlen aus dem Gesicht.
»Nein … ich bin so nah dran … kann nicht mehr aufhören … Außerdem heißt das PDA …« Sie wimmerte wieder und bog den Rücken durch. Die Hebamme kam zurück ins Zimmer und prüfte zum wiederholten Mal, wie weit Johannas Muttermund sich geöffnet hatte.
»Sie ist jetzt ganz offen«, sagte sie zufrieden. »Hast du gehört, Johanna? Gut gemacht. Zehn Zentimeter. Es dauert nicht mehr lange, dann kannst du pressen. Du warst wirklich tüchtig. Dein Baby ist bald da.«
Mellberg nahm Johannas Hand und hielt sie ganz fest. Er hatte ein seltsames Gefühl in der Brust. Am ehesten ließ es sich mit Stolz umschreiben. Er war stolz auf das Lob, das Johanna bekommen hatte. Sie hatten zusammengehalten, und nun würde das Baby von Paula und Johanna bald kommen.
»Wie lange dauert das Pressen?«, fragte er die Hebamme, und sie antwortete ihm freundlich. Da sich niemand erkundigt hatte, in welcher Beziehung er zu Johanna stand, hielt man ihn wahrscheinlich für den etwas überalterten Vater des Kindes. Er hatte nichts dagegen einzuwenden.
»Das kommt darauf an, aber ich schätze, dieses Kind ist spätestens in einer halben Stunde da.« Sie lächelte Johanna aufmunternd zu. Nach einer kurzen Pause zwischen zwei Wehen schnitt sie wieder eine Grimasse und spannte den ganzen Körper an.
»Jetzt fühlt es sich anders an«, brachte sie mühsam zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und griff nach dem Gas.
»Das sind die Presswehen«, erklärte die Hebamme. »Wenn du eine richtig starke Presswehe hast, sage ich dir Bescheid. Dann ziehst du die Knie an, drückst das Kinn auf die Brust und presst, so fest du kannst.«
Johanna nickte ermattet und klammerte sich an Mellbergs Hand. Er erwiderte den Druck, und beide sahen gespannt die Hebamme an und warteten weitere Anordnungen ab.
Nach wenigen Sekunden fing Johanna an zu keuchen und sah die Hebamme fragend an.
»Warte, warte, warte … noch nicht … warte, bis sie richtig heftig ist … und JETZT pressen!«
Johanna tat, was ihr gesagt worden war, drückte das Kinn auf die Brust, zog die Knie an und presste mit hochrotem Kopf, bis die Wehe abgeklungen war.
»Gut gemacht! Das war eine richtig tolle Wehe! Warte auf die nächste. Du wirst sehen, in null Komma nix hast du es geschafft.«
Die Hebamme behielt recht. Zwei Wehen später glitt das Baby heraus und wurde Johanna sofort auf den Bauch gelegt. Mellberg war fasziniert. Theoretisch wusste er ja, wie es funktionierte, aber es war etwas ganz anderes, direkt mitzuerleben, wie das Kind auf die Welt kam, mit Armen und Beinen ruderte und vor Wut schrie, bevor es mit dem Mund an Johannas Brust wühlte.
»Hilf deinem kleinen Jungen, die
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