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Engel aus Eis

Titel: Engel aus Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Camilla L�ckberg
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Telefon wären nur leeres Gerede gewesen und der Bruder hätte Vernunft angenommen, als er wieder nüchtern war. Jetzt wurde ihm klar, dass er sich geirrt hatte. Der Bruder stand mit beängstigender Willensstärke zu seinem Entschluss.
    Axel hatte Erik angefleht, das längst Begrabene nicht wieder aufzuwühlen, doch sein Bruder hielt zum ersten Mal unbeirrbar an seinem Standpunkt fest. Diesmal würde es ihm nicht gelingen, ihn mit Argumenten dazu zu bewegen, die Sache aufzuschieben. Diesmal hatte Erik sich entschlossen, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Er sprach auch von dem Kind und erzählte ihm zum ersten Mal, wie er es mithilfe von Nachforschungen gefunden hatte. Es sei ein Junge, und er habe ihm, seit er ein eigenes Einkommen hatte, jeden Monat etwas Geld überwiesen. Als eine Art Wiedergutmachung für das, was sie ihm genommen hatten. Der Vater des Jungen glaubte wahrscheinlich, er sei der leibliche Vater, und akzeptierte die Zahlungen ohne weitere Fragen. Doch das reichte nicht. Diese Buße linderte den Schmerz nicht, der ihn fast zerriss, sondern machte die Folgen ihrer Handlung nur noch deutlicher. Nun müsse die wirkliche Buße kommen, sagte Erik und blickte seinem Bruder in die Augen.
    Axel sah sein Leben vor sich. Er betrachtete sich selbst von außen. Das Bild, das die Leute von ihm hatten. Ihm wurde so viel Bewunderung und Respekt gezollt. Alles weg. Mit einem Fingerschnippen würde das alles verschwinden. Dann sah er das Lager. Den Häftling neben ihm, der in die Grube gestoßen wurde, die sie aushoben. Den Hunger, den Gestank und die Demütigungen. Das Gefühl, als der Gewehrkolben ihn am Ohr traf und darin etwas riss. Der tote Mann an seiner Seite auf der Fahrt durch Europa. Alles war wieder da. Er hörte die Geräusche, nahm die Gerüche wahr und empfand wieder den rasenden Zorn, der ständig in seiner Brust schwelte, auch wenn er vollkommen entkräftet nur noch ans Überleben und an den nächsten Tag dachte. Den Bruder in dem Stuhl vor ihm sah er nichtmehr, sondern alle, die ihn erniedrigt und verletzt hatten und ihn nun höhnisch und schadenfroh verlachten und sich freuten, dass diesmal er zum Schafott geführt würde. Doch diese Befriedigung gönnte er ihnen nicht. All die Toten und die Lebenden standen in einer Reihe und lachten ihn aus. Das würde er nicht überstehen. Aber er musste überleben. Alles andere zählte nicht.
    Es rauschte noch schlimmer als sonst in seinen Ohren, und er hörte nicht, was Erik sagte, sondern sah nur, dass seine Lippen sich bewegten. Aber das war nicht mehr Erik, sondern der junge Wächter in Grini, der so freundlich mit ihm geredet und ihm vorgegaukelt hatte, ein Mitmensch zu sein. Er hatte Axel glauben lassen, er wäre das einzig Menschliche an einem unmenschlichen Ort. Er, der ihm später in die Augen sah, das Gewehr hob und es mit dem Kolben nach unten sausen ließ, auf sein Ohr. Mitten ins Herz hatte er ihn getroffen.
    Voller Wut und Schmerz griff Axel nach dem nächstliegenden Gegenstand. Er hielt die schwere Steinbüste über Eriks Kopf in die Höhe, während Erik weitersprach und dabei etwas auf den Block auf seinem Schreibtisch kritzelte.
    Dann ließ er die Büste los. Er wandte keine Kraft auf, sondern ließ sie einfach mit ihrem ganzen Gewicht auf den Kopf des Bruders fallen. Nein, nicht auf Eriks Kopf. Sondern auf den des Wächters. Oder war es doch Erik? Alles war so durcheinander. Er befand sich zu Hause in der Bibliothek, aber die Gerüche und Geräusche waren vollkommen lebendig. Der Leichengestank, das Stiefeltrampeln, deutsche Befehle, die einen weiteren Tag im Leben oder den Tod bedeuten konnten.
    Axel hörte immer noch das Geräusch, mit dem der schwere Stein auf Haut und Knochen prallte. Dann war es vorbei. Erik gab ein letztes Stöhnen von sich und sackte mit offenen Augen in sich zusammen. Nach dem ersten Schock, als er begriff, was er getan hatte, überkam ihn seltsamerweise Ruhe. Es war unausweichlich gewesen. Vorsichtig legte er die schwere Büste unter den Schreibtisch, streifte die blutigen Handschuhe ab und steckte sie in die Jackentasche. Dann zog er die Rollos herunter, schloss die Tür ab, setzte sich wieder ins Auto, fuhr zurück zum Flughafen und nahm den nächsten Flug nach Paris. Um dasGanze zu verdrängen, stürzte er sich in die Arbeit. Bis die Polizei anrief.
    Es war schwer gewesen, nach Hause zu kommen. Zuerst wusste er überhaupt nicht, wie er wieder einen Fuß ins Haus setzen sollte. Doch nachdem die beiden freundlichen

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