Engel aus Eis
sich auf und schrie gellend.
»Du sollst schlafen, meine Süße.«
Maja schüttelte den Kopf.
»Doch, du schläfst jetzt.« Erica gab sich Mühe, so entschieden wie möglich zu klingen. Sie legte ihre Tochter hin, aber Maja war so schnell wieder auf den Beinen, als hätte sie eingebaute Sprungfedern.
»Mamaaa!«, kreischte ihre Tochter in einem Ton, der Glas zerspringen lassen konnte. Erica spürte, wie Zorn in ihr aufstieg. Das hier hatte sie schon so oft gemacht. So viele Tage hatte sie damit verbracht, Maja zu füttern, sie ins Bett zu bringen, sie herumzutragen und mit ihr zu spielen. Sie liebte ihre Tochter, aber nun brauchte sie dringend jemanden, der ihr die Verantwortung abnahm. Eine Atempause. Sie musste sich unbedingt wieder mit erwachsenen Dingen beschäftigen – genau wie Patrik es in dem Jahr gekonnt hatte, als sie mit Maja zu Hause war.
Sie legte Maja wieder hin, doch das hatte nur zur Folge, dass die Einjährige sich in Raserei hineinsteigerte.
»Du sollst jetzt schlafen.« Rückwärts verließ Erica das Zimmer und schloss die Tür. Kochend vor Wut und ein wenig zu heftig wählte sie Patriks Handynummer. Sie zuckte zusammen, als im Erdgeschoss das erste Klingeln ertönte. Patriks Mobiltelefon lag auf dem Küchentisch.
»So eine Scheiße!« Sie knallte das Schnurlose auf den Tisch. Dann zwang sie sich, ein paar Mal tief durchzuatmen. Tränender Wut liefen ihr über die Wangen, doch ihr vernünftiges Ich bemühte sich, logisch zu denken. Einerseits war es kein Weltuntergang, wenn sie ihn für eine Weile ablöste, andererseits aber doch. Sie konnte einfach nicht loslassen, weil sie nicht das Gefühl hatte, dass Patrik ihr die Verantwortung abnahm.
Aber so war es nun einmal. Das Wichtigste war, dass sie ihre Wut nicht an Maja ausließ. Sie konnte schließlich nichts dafür. Erica atmete noch einmal tief durch und ging wieder ins Zimmer ihrer Tochter. Maja hatte vom Brüllen einen hochroten Kopf, und im Zimmer hatte sich ein unmissverständlicher Geruch ausgebreitet. Das Rätsel war gelöst. Deshalb konnte Maja nicht einschlafen. Mit schlechtem Gewissen und der festen Überzeugung, eine Rabenmutter gewesen zu sein, nahm Erica ihre Tochter behutsam auf den Arm und drückte das flaumige Köpfchen an ihre Brust. »Ganz ruhig, meine Süße, jetzt bekommst du eine saubere Windel.« Maja schmiegte sich schluchzend an sie. Unten in der Küche schrillte Patriks Handy.
»Ein wenig unheimlich …« Martin blieb eine Weile im Flur stehen und lauschte den typischen Geräuschen, die es in allen alten Häusern gab. Leises Knacken oder Knirschen, kleine Klagelaute, wenn der Wind das Haus erfasste.
Gösta nickte. Es lag tatsächlich eine unheimliche Stimmung über dem Haus, aber ihm war klar, dass dieser Eindruck vor allem darauf beruhte, dass sie wussten, was hier passiert war.
»Hat Torbjörn nichts dagegen, dass wir hineingehen?« Martin drehte sich zu Gösta um.
»Sie haben alle notwendigen Untersuchungen gemacht.« Gösta deutete mit dem Kopf zur Bibliothek, wo noch Spuren des Pulvers zu sehen waren, mit dem man Fingerabdrücke fixierte. Schwarze, verwischte Flecke, die den Gesamteindruck dieses ansonsten so schönen Zimmers zerstörten.
»Na gut.« Martin streifte die Schuhe an der Fußmatte ab und ging auf die Bibliothek zu. »Sollen wir hier anfangen?«
»Scheint logisch.« Gösta folgte ihm ächzend.
»Ich übernehme den Schreibtisch, dann kannst du die Ordner durchgehen.«
»Klar«, ächzte Gösta. Martin fiel das dauernde Stöhnen gar nicht mehr auf, weil Gösta jedes Mal seufzte, wenn ihm eine konkrete Aufgabe bevorstand.
Vorsichtig näherte sich Martin dem Schreibtisch. Es war ein riesiges verschnörkeltes Möbelstück aus dunklem Holz. Martin fand, dass es besser in ein englisches Herrenhaus als in diesen großen und luftigen Raum gepasst hätte. Auf der Tischplatte lagen ein Stift und eine Schachtel Büroklammern in perfekter Symmetrie. Etwas Blut war auf einen vollgekritzelten Block getropft. Martin beugte sich vor, um zu lesen, was mehrmals darauf stand: Ignoto milite . Die Wörter sagten ihm nichts. Behutsam zog er eine Schublade nach der anderen heraus und ging systematisch den Inhalt durch. Nichts weckte sein Interesse. Er stellte lediglich fest, dass Erik und sein Bruder ganz offensichtlich nicht nur das Arbeitszimmer, sondern auch die Vorliebe für Ordnung geteilt hatten.
»Das geht in eine krankhafte Richtung.« Gösta zeigte Martin den Inhalt eines Ordners. Alle Blätter waren
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