Engel der Finsternis (German Edition)
mein, lass mich dir empfohlen sein“, flüsterte sie. „Tag und Nacht ich bitte dich, beschütz, regier und leite mich, und hilf mir zu leben recht und fromm, so dass ich zu dir in den Himmel komm.“ Sie bekreuzigte sich und erhob sich schwerfällig bei dem Gedanken an das, was ihr bevorstehen würde. „Meresin“, murmelte sie leise mit trauriger Stimme. „Was soll ich nur tun? Bitte komm zu mir und steh mir bei.“
Die Hand, die sie ganz sanft an ihrer Schulter berührte, war groß und kräftig - seine Hand.
„Meresin!“ Sie flüsterte seinen Namen ehrfürchtig, noch ehe sie sich umdrehte und zu ihm empor blickte. Franzi wagte kaum zu atmen. Es war das erste Mal, dass der Engel sich ihr am Tage zeigte. Bisher war er ihr immer nur in ihren Träumen erschienen. Obwohl sie nie sicher gewesen war, ob sie wirklich geträumt hatte, denn sie hatte ihn stets genau so vor sich gesehen wie in diesem Augenblick.
Meresin war ein stattlicher, überaus gut aussehender Mann, gut einen Kopf größer als Franzi, mit breiten Schultern und starken Armen. Er hatte kurzes, schwarzes Haar und ein schmales Gesicht mit markanten und dennoch weichen Zügen. Seine dunklen Augen schimmerten im Licht des Feuers.
„Keine Angst, Franzi!“, sagte er mit seiner tiefen und dennoch sanft klingenden Stimme. „Ich bin bei dir.“
Franzi wagte kaum zu atmen und starrte ihn für einen Augenblick einfach nur an. Wie immer trug er unter seinem roten Umhang ein dunkelblaues, seidig glänzendes Hemd, in das mit Goldfäden kunstvolle Muster eingestickt waren, die im Feuerschein wie Edelsteine funkelten. Die gleichfarbigen Beinkleider hatte er mit Wickelgamaschen um die Beine gebunden, die aus dem gleichen edlen Leder bestanden wie seine pelzgefütterten Schuhe. Meresin trug die Kleidung eines Königs. Und sie stand vor ihm als arme Bauernmagd - zerlumpt, schmutzig und hilflos. Dennoch wusste sie, dass er nur wegen ihr gekommen war, um sie zu beschützen und ihr beizustehen.
Franzi konnte kaum der Versuchung widerstehen, die schneeweißen Federn seiner Flügel zu berühren, die wie die Muster auf seinem Hemd im Schein des Feuers golden zu glänzen schienen. Manchmal bewegten sie sich, als hätte ein leichter Luftzug sie gestreift. Aber das war nur sein Atem. Ruhig und gleichmäßig wie sein Brustkorb hoben und senkten sich die Schwingen auf seinem Rücken.
Meresin sagte kein Wort. Er blickte sie einfach nur an und ließ ihr Zeit. An ihrem Gesicht war erkennbar, wie sehr allein seine Gegenwart und der Anblick seiner Flügel sie beruhigte.
Sobald Meresin bei ihr war, fühlte sie sich sicher und geborgen. Selbst in dieser Situation, im Gemach des Grafen, verspürte sie die quälende Angst nicht mehr, die ihr gerade eben noch die Vorstellung verursacht hatte, ihren Herrn baden zu müssen. Meresin würde es nicht zulassen, dass der Graf Hand an sie legte. Er war gekommen, um ihr das zu ersparen. Sie war sich dessen sicher. Deswegen war er ihr nun zum ersten Mal seit sie sich kannten bei Tage erschienen. Das war kein Traum.
Ohne, dass sie danach fragen musste, bestätigte er ihre Gedanken. „Du schläfst nicht, Franzi. Ich musste kommen. Aber der Graf wird bald hier sein. Dir bleibt nicht viel Zeit.“
Aus großen Augen blickt Franzi zu ihm auf. So hatte er noch nie mit ihr gesprochen. Wenn er nachts zu ihr kam, in ihren Träumen, saßen sie oft stundenlang nebeneinander und redeten kaum ein Wort. Sie sahen in die Glut des Feuers, lauschten den Geräuschen aus dem Wald oder hingen ihren Gedanken nach. Sofern auch ein Engel so etwas tat. Sie hatte ihn noch nie gefragt, was ihm durch den Kopf ging, wenn er bei ihr war. Anfangs war sie immer ein Stück von ihm abgerückt und hatte ihn aus den Augenwinkeln verlegen und schamhaft angesehen. Mit der Zeit war sie immer näher gekommen, bis er sie eines Nachts zum ersten Mal in den Arm genommen und an sich gedrückt hatte.
Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie sich keinem Menschen mehr so nahe gefühlt wie Meresin in jener Nacht. Seine Berührungen taten ihr gut. Sie gaben ihr ein Gefühl von Geborgenheit und Liebe, alles, was sie in ihrem Leben so schmerzhaft vermisste.
Gewiss, Mechthild umarmte sie und auch Jakobus drückte sie von Zeit zu Zeit an sich, aber das war nicht dasselbe. Bei Meresin hatte sie vom ersten Moment an das Gefühl gehabt, dass sie mehr verband als nur Zuneigung oder bloße Freundschaft. Meresin konnte sie sich vorbehaltlos anvertrauen, mit ihm konnte sie über alles reden, ohne
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