Engel der Kindheit
die schweißigen Ausdünstungen aus den groben Poren roch. Ohrenzerreißend hallten seine Worte durch die wenig möblierte Küche. Schutzsuchend zuckte Nils verängstigt zusammen. Knallend schlug sein Vater ihm mit der flachen Hand in das Gesicht. Schützend riss Nils die Arme hoch, verschränkte sie über seinem Kopf, aber es war zu spät. Unwettergleich donnerten die Fäuste seines Vaters auf ihn ein. Instinktiv schützte Nils seinen empfindlichen Kopf, da er wusste, dass die Verletzungen die er dort erlitt, am Schwerwiegendsten waren.
„Gustav, nein, lass den Jungen!“, bettelte seine Mutter.
„Sei du doch still, sonst geht es dir nicht anders!“
Zusammengerollt kauerte Nils sich auf den Boden, wehrlos den Schlägen ausgeliefert, die wie aus einem Maschinengewehr auf ihn niederprasselten.
„Dann sollen sie dich doch mitnehmen! Ich werde dich nicht vermissen! Ich möchte wissen, wer mich angeschwärzt hat! Bestimmt deine piekfeinen Freunde von nebenan! Ich verbiete dir, mit ihnen zu sprechen, hast du gehört! Du wirst dich von ihnen fernhalten! Auch du, Frau! Wenn ich dich noch einmal sehe, wie du mit ihnen sprichst, wirst du mich kennenlernen! Steh auf, du verweichlichter Waschlappen, wehr dich, komm, schlag zurück! Was bist du nur für ein armseliger Junge, der nicht einmal seine Fäuste benutzen kann? Liegst hier und wimmerst, wie ein Häufchen Elend und flennst vor dich hin, anstatt dich zu wehren!“ Zwar kaum möglich, aber immer stärker hieb er auf Nils ein, seine Füße traten nach ihm, während die Fäuste auf Nils Rücken schmetterten. Seinen ganzen aufgestauten Zorn schrie Nils Vater sich von der Seele. In einer kurzen Atempause sprang Nils auf, rannte zu dem Schuppen, zitternd öffneten seine Hände den Riegel, rasch verschwand er hinter der morschen Holztür, stellte den Gartenstuhl und zur Sicherheit die Werkzeugkiste davor.
Ächzend rannte Nils zu seinem sicheren Versteck in der äußersten Ecke des Schuppens, warf sich auf die dreiteilige Matratze und schluchzte bitterlich in den verdreckten Stoff. Unaufhaltsam liefen ihm die Tränen aus seinen Augen.
„Papa, sieh mal, was ich auf dem Feld gefunden habe!“ Am Ende ihrer Kräfte schleppte Lena einen großen, ausgewachsenen Kohlrabe, dessen wild pickenden Schnabel sie mit ihrer Hand fest verschlossen hielt.
„Engelchen! Der ist doch viel zu schwer für dich! Was ist ihm denn geschehen?“ Amüsiert schüttelte Lenas Vater den Kopf über seine Tochter, die ihm sooft kleine Patienten brachte. Früher, als sie noch kleiner war, hatte sie Regenwürmer, Spinnen, Fliegen, Bienen und Käfer, Molche, Lurche, Eidechsen und Grashüpfer, sogar Mäuse, einfach alles, was sich bewegte, zu ihm gebracht, nur um kontrollieren zu lassen, dass an ihnen alles heil war. Heute brachte sie laufend verletzte Tiere, um die er sich fürsorglich kümmern musste.
„Er hat sich den Flügel gebrochen, sieh mal!“ Vorsichtig setzte sie ihn auf den Boden, verzweifelt scharrten seine Krallen im sandigen Boden, fachkundig breitete Lena seinen verletzten Flügel aus. Das kohlrabenschwarze Gefieder, das in den Schwingen weißgefleckt war, wies in der Mitte des Flügels Blutspuren auf. Lahm hing der Flügel an seinem Körper herunter.
„Wir müssen den Flügel schienen! Lass mich ihn auf die Untersuchungsliege tragen!“ Sicher fasste Georg Johle den Raben unter dem schweren Bauch und trug ihn in sein Untersuchungszimmer. Dicht auf den Fersen folgte Lena ihm, sie wusste, dass sie ihrem Vater helfen durfte.
Ganz genau verfolgte sie die geübten Handgriffe ihres Vaters, der den Flügel des Raben fachmännisch schiente. Beim Anlegen des Verbandes durfte Lena mithelfen, flink ließ sie die Binde vorsichtig in ihren Händchen rollen, umwickelte den geschienten Flügel damit. Mitfühlend strich sie dem Raben über das Gefieder, als er von ihrem Vater in ein geschlossenes Freigehege gebracht wurde, indem sich die Elster, die sich in einem Maschendrahtzaun verfangen hatte, und der Eichelhäher, der sich an einer scharfen, hervorstehenden Messerspitze auf dem Boden verletzt hatte, befanden.
„So, jetzt gehen wir aber zum Abendessen, Mama wartet sicher schon auf uns!“ Glücklich reichte Georg seiner Tochter die Hand, nachdem sie sich beide die Hände gewaschen und desinfiziert hatten. Stolz schritt er mit seiner Tochter in das wunderschöne, heimelig wirkende Fachwerkhaus.
Als sie beim Abendessen auf der großen, von Büschen eingezäunten Terrasse saßen, erklang aus
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