Engel der Kindheit
Vater, der nie ohne ihre Mutter einkaufen gehen würde.
„Also, gut, dann treffen wir uns zum Bummeln! Lena, ich vermisse dich! Es ist schon über einen Monat her, dass ich dich gesehen habe, ich vergehe vor Sehnsucht nach dir!“ Rau drang Krischans aufgewühlte Stimme an Lenas Ohr.
„Ich werde bald wieder bei dir sein! Krischan, sei mir nicht böse, ich muss nach Babs sehen, sie muss ins Bett, es ist schon spät!“ Noch immer hatte sie die drei Worte, auf die Krischan wartete, nicht über die Lippen gebracht. Meist beendete sie ihr Telefongespräch recht schnell.
„Lena, ich liebe dich! Tausend Küsse für dich, mein Herz!“
„Für dich auch, tschüss Krischan!“ Bebend legte sie den Hörer auf die Gabel. Ihr Herz raste, aber nicht vor Erregung, sondern vor schlechtem Gewissen. Viel zu weit war sie gegangen, um noch umkehren zu können. Eindringlich hatte ihr Vater ihr ins Gewissen geredet, er hatte sie gewarnt, einen Fehler zu begehen, aber da war es schon zu spät gewesen. Als dann nach dem Sommerurlaub wieder ein maschinengeschriebenes Kuvert aus Australien mit der Geburtsanzeige von Nils Sohn gekommen war, hatte Lena gewusst, dass sie richtig gehandelt hatte. Je näher allerdings der Hochzeitstermin rückte, desto mehr zweifelte sie daran.
„Babs?“ Leichtfüßig lief Lena in ihrem duftigen, geblümten Sommerkleid barfuß in den Garten. Wie immer war Babs an den Käfigen ihres Vaters.
Fasziniert stand sie vor dem Käfig, in dem eine verletzte Zuchthenne saß.
Kaum den Boden berührend sprang Lena leichtfüßig über den kurzgeschorenen Rasen und sah nach, was ihre Tochter so bewegte.
„Meine Güte, ist das niedlich!“ Sacht griff Lena von oben in den geöffneten Käfig und holte ein kleines, frischgeschlüpftes Küken heraus.
„Sie mal! Es ist noch ganz nass, sein Fell klebt an seinem winzigen Körper!“ Liebevoll hielt sie es umfangen, wärmte es, während Babs es vorsichtig streichelte.
Eigentümlich meinte Lena schon die ganze Zeit, Blicke in ihrem Rücken zu spüren. Aber es konnte niemand da sein, der sie beobachtete. Vorsichtig drehte sie sich um und sah Nils an dem niederen Zaun auf der anderen Seite des Grundstücks stehen.
Für einen Moment setzte ihr Herz aus, bevor es wirbelnd und hämmernd gegen ihre Rippen schlug. „Nils?“ Schwankend stand sie auf, hatte noch immer das Küken in der Hand. Vergessen war ihre Tochter neben ihr, sie sah nur noch Nils, der sie aus seinen überwältigenden Wolfsaugen traurig ansah. Ebenso wenig wie sie, konnte er den Blick von ihr lösen.
Blitzartig wurde Lena bewusst, dass Nils nicht erfahren durfte, dass Babs seine Tochter war. „Babs, lauf schnell zur Momi, sag ihr, dass Nils da ist, ich werde zu ihm gehen, sie soll dich ins Bett bringen! Gute Nacht, mein Engel!“ Auf die rosige Wange gab sie ihr einen Kuss.
Beleidigt sah Babs auf das Küken, das Lena sorgsam in den Stall zurücksetzte, aber sie folgte immer, also lief sie rufend zu ihrer Großmutter. „Momi, Momi, ich hab Hunger!“ Quer rannte Babs über den Rasen und verschwand hinter der geöffneten Terrassentüre.
Noch immer regungslos stand Nils am niederen Zaun. Auf wackeligen Beinen schritt Lena barfuß über das Gras, ihr kam es vor, wie wenn sie magnetisch, nein magisch, von ihm angezogen wurde. Tief blickten sie sich in die Augen, ihre Blicke hielten sich gefangen, die elektrisierte Luft dazwischen flimmerte zwischen ihnen. Wie unter Zwang öffnete Lena das kleine Gartentor. Unter ihren Füßen spürte sie nur unbewusst das hohe Gras, das sie niedertreten musste.
Wutentbrannt kam Sonja auf die Terrasse gerannt, sie wollte gerade ansetzen, Nils mit den wüstesten Worten zu beschimpfen, als sie den beinahe hypnotisierten Blick ihrer Tochter sah. Wieder einmal hatte Georg recht behalten, Krischan konnte Lena nicht verzaubern, ihr Herz gehörte Nils, hatte es schon immer gehört. Schlendernd kam in diesem Moment Georg aus der Praxis, suchte seine Frau und fand sie, vertieft in den Anblick der liebenden jungen Leute.
„Nils!“ Direkt blickte Lena ihm in seine meerblauen Augen, sie war so dicht bei ihm, dass sie sogar die weißen Einschlüsse in seiner tiefblauen Iris sah.
„Lena!“ Verhalten, mit zitternder, tiefer Stimme sprach er ihren Namen aus. Schlaff hingen seine Arme an seinem Körper, er war nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen, sein Mund stand offen, sogar das Schlucken hatte er verlernt. Berstend waren über ihm seine tiefen Gefühle zusammengeschlagen. Wie
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