Engel Der Nacht
der ersten Leitersprosse und zog mich hoch. Langsam erklomm ich eine Sprosse, dann die nächste. Aus dem Augenwinkel sah ich den Trinkbrunnen weit unter mir. Er war klein, was bedeutete, dass ich hoch oben war. Sehr hoch.
Nicht hinuntersehen, befahl ich mir. Konzentriere dich
auf das, was hier oben ist. Vorsichtig stieg ich eine Sprosse höher. Die Leiter klapperte, sie war nicht ganz fest an die Wand geschweißt.
Jules’ Gelächter schallte zu mir hoch, und ich verlor die Konzentration. Bilder vom Abstürzen blitzten in meinem Kopf auf. Logischerweise wusste ich, dass er sie dorthin schickte. Dann kippte mein Hirn ab, und ich wusste nicht mehr, wo oben und wo unten war, und konnte nicht mehr unterscheiden, welche Gedanken meine waren und welche Jules gehörten.
Meine Angst war so stark, dass sie meine Sicht trübte. Ich wusste nicht mehr, wo auf der Leiter ich stand. Waren meine Füße in der Mitte? War ich im Begriff abzurutschen? Ich hielt die Sprosse mit beiden Händen und presste meine Stirn gegen meine Knöchel. Atme, sagte ich mir. Atme!
Und dann hörte ich es.
Der langsame, quälende Laut von ächzendem Metall. Ich schloss die Augen, um einen Schwindelanfall zu unterdrücken.
Die Metallklammern, die das Ende der Leiter an der Wand hielten, lösten sich. Das metallische Ächzen wurde zu einem hohen Quietschen, als das nächste Paar Klammern von der Wand abriss. Ich sah, wie die ganze obere Hälfte der Leiter losbrach. Ein Schrei war mir im Hals stecken geblieben. Ich wand meine Arme und Beine um die Leiter und bereitete mich seelisch aufs Fallen vor. Die Leiter schwebte einen Moment lang in der Luft, dann gab sie geduldig der Schwerkraft nach.
Dann ging alles sehr schnell. Die Dachbalken und Oberlichter verschwanden in einem schwindelerregenden Schleier. Ich flog nach unten, bis die Leiter plötzlich zum Halten kam. Sie schwankte auf und ab, im rechten Winkel zur Wand, zehn Meter über dem Boden. Der Aufprall ruckte meine Beine
los, meine Hände waren jetzt mein einziger Halt an der Leiter.
» Hilfe! «, schrie ich, während meine Beine in der Luft Fahrrad fuhren.
Die Leiter schlingerte und fiel noch einen Meter weiter. Einer meiner Schuhe löste sich von meinem Fuß und fiel nach unten. Eine Ewigkeit später schlug er auf dem Hallenboden auf. Ich biss mir auf die Zunge, als der Schmerz in meinen Armen schlimmer wurde. Sie wurden aus ihren Gelenken gerissen.
Und dann, durch meine Angst und Panik hindurch, hörte ich Patchs Stimme. Blockiere ihn. Klettere weiter. Die Leiter ist in Ordnung.
»Ich kann nicht«, schluchzte ich. »Ich falle.«
Blockiere ihn. Schließ die Augen. Hör auf meine Stimme.
Ich schluckte und zwang mich, die Augen zu schließen. Hielt mich an Patchs Stimme und spürte, wie sich eine feste Oberfläche unter mir formte. Meine Füße hingen nicht mehr in der Luft. Ich fühlte, wie sich die Sprosse in meine Fußballen presste. Während ich entschlossen auf Patchs Stimme hörte, wartete ich, bis die Welt wieder an ihrem Platz war. Patch hatte recht. Die Leiter stand aufrecht und war fest mit der Wand verschraubt. Ich gewann meine Sicherheit zurück und kletterte weiter.
Am Ende der Leiter kletterte ich vorsichtig auf den nächsten Dachbalken. Ich hielt mich mit den Armen daran fest, dann schwang ich mein rechtes Bein hoch und darüber. Ich hockte dort mit Blick auf die Wand und dem Rücken zum Luftschacht, aber da konnte ich jetzt nichts dran ändern. Sehr vorsichtig kam ich auf die Knie. Hochkonzentriert bewegte ich mich Zentimeter für Zentimeter rückwärts über die gesamte Halle hinweg.
Aber es war zu spät - Jules war schnell geklettert und jetzt
weniger als fünf Meter von mir entfernt. Er kletterte auf den Dachbalken. Mit den Händen zog er sich in meine Richtung. Ein dunkler Schnitt an der Innenseite seines Handgelenks zog meinen Blick auf sich. Er verlief quer über seine Adern und war von fast schwarzer Farbe. Für jeden anderen hätte er wahrscheinlich wie eine Narbe ausgesehen. Für mich war es so viel mehr; die Familienverbindung war offensichtlich. Wir hatten dasselbe Blut, und der Beweis waren unsere identischen Muttermale.
Beide saßen wir rittlings auf dem Dachbalken, von Angesicht zu Angesicht, drei Meter voneinander entfernt.
»Irgendwelche letzten Worte?«, fragte Jules.
Ich sah hinunter, obwohl es mich schwindlig machte. Patch war weit unter mir auf dem Hallenboden, völlig unbeweglich. Ich wollte die Zeit zurückdrehen und jeden Moment mit ihm noch
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