Engel Der Nacht
ein Geist?«
»Als du gesprungen bist, hat dein Opfer Jules getötet. Rein technisch gesehen hätte auch er zurückkommen müssen, als du zurückgekommen bist. Aber weil er keine Seele mehr hatte, hatte er nichts, was seinen Körper hätte wiederbeleben können.«
»Ich bin zurückgekommen?«, fragte ich, wollte mir aber keine falschen Hoffnungen machen.
»Weil ich dein Opfer nicht angenommen habe. Ich habe es abgelehnt.«
Mein Mund formte ein kleines Oh , aber es hatte nicht die Kraft, an meinen Lippen vorbeizukommen. »Willst du damit sagen, du hast meinetwegen auf einen menschlichen Körper verzichtet?«
Er hob meine verbundene Hand. Unter all der Gaze schmerzte meine Hand von den Faustschlägen, die ich Jules verpasst hatte. Patch küsste jeden Finger, nahm sich Zeit damit und hielt die Augen dabei fest auf mich gerichtet. »Wozu brauche ich einen Körper, wenn ich dich nicht haben kann?«
Schwere Tränen rannen über meine Wangen, und Patch zog mich an sich und legte meinen Kopf an seine Brust. Ganz langsam verschwand die Panik, und ich wusste, es war alles vorbei. Ich hatte überlebt, und ich würde wieder in Ordnung kommen.
Plötzlich machte ich mich los. Wenn Patch das Opfer abgelehnt hatte, dann …
»Du hast mein Leben gerettet. Dreh dich um«, befahl ich ernst.
Patch lächelte durchtrieben und folgte meinem Befehl. Er zog sein T-Shirt bis zu den Schultern hoch. Sein Rücken war nichts als glatte, wohlgeformte Muskulatur. Die Narben waren verschwunden.
»Du kannst meine Flügel nicht sehen«, sagte er. »Sie sind aus ideeller Materie.«
»Dann bist du jetzt ein Schutzengel.« Ich empfand immer noch zu viel Ehrfurcht, um alles verstehen zu können, aber gleichzeitig fühlte ich auch Verblüffung, Neugier und Glück.
»Ich bin dein Schutzengel«, sagte er.
»Ich bekomme meinen eigenen Schutzengel? Wie sieht denn deine Arbeitsplatzbeschreibung aus?«
»Deinen Körper zu beschützen.« Sein Lächeln wurde breiter. »Ich nehme meinen Job sehr ernst, was bedeutet, dass ich mich mit dem Thema auf einer ganz persönlichen Ebene vertraut machen muss.«
Mein Magen flatterte heftig. »Heißt das, du kannst jetzt fühlen?«
Patch sah mich einen Augenblick lang schweigend an. »Nein, aber es bedeutet, dass ich nicht mehr auf der schwarzen Liste stehe.«
Unten hörte ich das leise Rumpeln der aufgehenden Garagentür.
»Meine Mutter!«, keuchte ich. Ich fand den Wecker auf dem Nachttisch. Es war kurz nach zwei Uhr morgens. »Die Brücke muss wieder offen sein. Wie funktioniert dieses ganze Schutzengelzeugs? Bin ich der einzige Mensch, der dich sehen kann? Ich meine, du bist doch unsichtbar für alle anderen?«
Patch sah mich an, als hoffte er, ich meinte es nicht ernst.
»Du bist nicht unsichtbar?«, quietschte ich. »Du musst hier raus!«
Ich machte eine Bewegung, um Patch vom Bett zu scheuchen, wurde aber von einem brennenden Schmerz in meinen Rippen aufgehalten. »Sie bringt mich um, wenn sie dich hier findet. Kannst du auf Bäume klettern? Sag, dass du auf einen Baum klettern kannst!«
Patch grinste. »Ich kann fliegen.«
Oh, richtig. Gut. Okay.
»Die Polizei und die Feuerwehr waren vorhin hier«, sagte Patch. »Das große Schlafzimmer muss wohl völlig renoviert werden, aber sie konnten verhindern, dass das Feuer sich weiter ausbreitete. Die Polizei wird wiederkommen. Sie haben bestimmt noch ein paar Fragen. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass sie bereits versucht haben, dich auf dem Handy anzurufen, von dem aus du den Notruf abgesetzt hast.«
»Jules hat es mir weggenommen.«
Er nickte. »Das habe ich mir gedacht. Es ist mir egal, was du der Polizei erzählst, aber ich wüsste es zu schätzen, wenn du mich da raushalten würdest.« Er schob mein Schlafzimmerfenster auf. »Noch eins: Vee hat es rechtzeitig zur Polizei geschafft. Die Sanitäter haben Elliot gerettet. Er ist im Krankenhaus, aber er wird es schaffen.«
Unten im Flur, am Fuß der Treppe, hörte ich, wie sich die Haustür schloss. Meine Mutter war da.
»Nora?«, rief sie. Sie warf Tasche und Schlüssel auf den Eingangstisch. Ihre hohen Absätze klickten in Beinahe-Renngeschwindigkeit auf dem Holzfußboden. »Nora! Da ist Polizeiabsperrband an der Vordertür! Was ist passiert?«
Ich sah zum Fenster. Patch war weg, aber eine einzelne schwarze Feder hing draußen am Glas, festgehalten vom Regen der letzten Nacht. Oder von Engelszauber.
Unten knipste meine Mutter das Flurlicht an, ein schmaler Streifen reichte bis
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