Engel Der Nacht
unter die Tür meines Schlafzimmers. Ich hielt den Atem an und zählte die Sekunden, in der Annahme, dass ich ungefähr noch zwei hatte, bevor …
Sie kreischte. »Nora! Was ist mit dem Treppengeländer passiert?«
Gut, dass sie ihr Schlafzimmer noch nicht gesehen hatte.
Der Himmel zeigte sich in einem perfekten, klargespülten Blau. Die Sonne fing gerade an, über den Horizont zu strahlen. Es war Montag, ein nagelneuer Tag, und die Schrecken der letzten vierundzwanzig Stunden lagen weit zurück. Ich hatte fünf Stunden geschlafen, und abgesehen von einem Schmerz im ganzen Körper, der wohl davon kam, dass ich vom Tod verschlungen und dann wieder ausgespuckt worden war, fühlte ich mich erstaunlich frisch. Ich wollte meine Stimmung nicht verdüstern, indem ich mich selbst daran erinnerte, dass die Polizei jede Minute eintreffen konnte, um meine Aussage bezüglich der Ereignisse der letzten Nacht zu Protokoll zu nehmen. Ich war mir noch nicht sicher, was ich ihnen erzählen würde.
Ich tappte im Nachthemd ins Badezimmer - im Kopf die Frage beiseiteschiebend, wie ich da eigentlich hineingekommen war, weil ich doch vermutlich Kleider am Leib gehabt hatte, als Patch mich nach Hause brachte - und beeilte mich mit meiner Morgentoilette. Ich wusch mein Gesicht mit kaltem Wasser, putzte die Zähne und bändigte mein Haar, indem ich es in ein Gummiband steckte. In meinem Zimmer zog ich ein sauberes T-Shirt und eine frische Jeans an.
Dann rief ich Vee an.
»Wie geht es dir?«, fragte ich.
»Gut. Und dir?«
»Gut.«
Schweigen.
»Okay«, sagte Vee eilig. »Ich bin immer noch völlig von der Rolle. Du?«
»Völlig.«
»Patch hat mich mitten in der Nacht angerufen. Er hat gesagt, dass Jules dich ganz schön zugerichtet hat, aber dass du in Ordnung wärst.«
»Wirklich? Patch hat dich angerufen?«
»Vom Jeep aus. Er hat gesagt, du wärst auf dem Rücksitz eingeschlafen, und er würde dich nach Hause fahren. Er sagte, er wäre gerade zufällig an der Highschool vorbeigefahren, als er einen Schrei gehört hätte. Dann hat er dich in der Sporthalle gefunden, aber du warst vor Schmerz ohnmächtig. Als er hochblickte, sah er Jules, wie er vom Dachbalken sprang. Er meinte, Jules muss die Nerven verloren haben, eine Nebenwirkung der schweren Schuldgefühle, weil er dich so terrorisiert hatte.«
Ich hatte nicht gemerkt, dass ich den Atem angehalten hatte, bis ich ihn wieder ausstieß. Offensichtlich hatte Patch ein bisschen mit den Details jongliert.
»Du weißt, dass ich ihm das nicht abkaufe«, fuhr Vee fort. »Ich denke, Patch hat Jules umgebracht.«
An Vees Stelle würde ich wahrscheinlich ähnlich denken. Ich sagte: »Was glaubt denn die Polizei?«
»Stell den Fernseher an. Sie berichten gerade, Kanal Fünf. Sie sagen, Jules sei in die Schule eingebrochen und gesprungen. Die haben entschieden, dass es sich um einen tragischen Teenagerselbstmord handelt. Sie bitten Leute, die Informationen haben, die Nummer der Hotline anzurufen, die unten am Bildschirm eingeblendet ist.«
»Was hast du der Polizei erzählt, als du sie angerufen hast?«
»Ich hatte Angst. Ich wollte nicht wegen Einbruchs ins Gefängnis. Also habe ich anonym von einer Telefonzelle aus angerufen.«
»Gut«, sagte ich schließlich. »Wenn die Polizei es für einen Selbstmord hält, dann war es auch einer. Schließlich leben wir hier im modernen Amerika. Wir können uns auf unsere Gerichtsmediziner verlassen.«
»Du verheimlichst mir etwas«, sagte Vee. »Was ist wirklich passiert, nachdem ich weggerannt bin?«
Hier wurde die Sache schwierig. Vee war meine beste Freundin, und unser Motto lautete: ›Keine Geheimnisse‹. Aber es gibt Dinge, die sind einfach unmöglich zu erklären. Und die Tatsache, dass Patch gefallen - und Schutzengel geworden - war, stand ganz oben auf der Liste. Gleich danach kam die Tatsache, dass ich von einem Dachbalken gesprungen und gestorben, aber trotzdem heute am Leben war.
»Ich erinnere mich, wie Jules mich in der Turnhalle in die Enge getrieben hat«, sagte ich. »Er hat mir all die Schmerzen und Ängste geschildert, die ich gleich fühlen würde. Danach verschwimmen die Details.«
»Ist es zu spät dafür, mich zu entschuldigen?«, sagte Vee und klang aufrichtiger als je zuvor in unserer Freundschaft. »Du hattest recht mit Jules und Elliot.«
»Entschuldigung angenommen.«
»Wir sollten zum Einkaufszentrum gehen«, sagte sie. »Ich habe das überwältigende Bedürfnis , Schuhe zu kaufen. Ganz viele. Was wir
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