Engel der Rache - Bruder Hilperts fünfter Fall
Jahre alt war«,
erwiderte die junge Frau und begann, in ihrer Kammer auf und ab zu gehen. »Danach
war nichts mehr so, wie es sein sollte.«
»Das heißt, Ihr wart Euch selbst überlassen.«
»Gelinde ausgedrückt. Wäre meine Amme nicht
gewesen, hätte sich kein Mensch um mich gekümmert.«
»Und Euer Vater?«
»Der hatte genug mit sich und seinen Patienten
zu tun. Damit wir uns richtig verstehen, Bruder: Ich käme nie auf die Idee, ihm
einen Vorwurf zu machen. Schließlich musste er zusehen, dass er uns über die Runden
bringt.«
»Der Grund, weshalb Eure Amme zu einer Art …
wie drücke ich mich jetzt bloß aus? … zu einer Art Ersatzmutter geworden ist.«
»Wie sich das anhört – ›Ersatzmutter‹!« Am anderen
Ende der Kammer angekommen, drehte sich die Baderstochter um, senkte das Haupt und
sprach: »Sie war wie eine Mutter für mich. Eine Mutter, wie man sie sich nicht besser
wünschen kann. Und nicht nur das.«
»Sondern auch eine Lehrmeisterin, nicht wahr?«
»Das war sie – und was für eine.« In Gedanken
weit weg, schien die Baderstochter ihren Gesprächspartner kaum noch wahrzunehmen
und durchmaß die Dachkammer aufs Neue. »Hat mich gelehrt, wie man Heilkräuter von
gewöhnlichen Kräutern unterscheidet. Auf welcherlei Art man Salben, Elixiere und
Betäubungsmittel herstellt. Wie man sich der Natur bedient, um den Menschen von
seinen Gebrechen zu kurieren. Kurzum – sie hat mich zu dem gemacht, was ich bin.
Mich in Geheimnisse eingeweiht, um die sich jeder Medicus reißen würde.«
»Unter anderem auch in die Geheimnisse der Anatomie?«
Auf einen Schlag hellwach, wirbelte die Baderstochter
herum und sah Bruder Hilpert mit zusammengekniffenen Augenbrauen an. »Wie darf ich
das verstehen?«
Bruder Hilpert ließ sich nicht aus der Ruhe
bringen. »Korrigiert mich, Jungfer –«, tastete er sich mit der gebotenen Vorsicht
voran, »aber seid Ihr nicht auch der Meinung, dass eine Heilkundige über anatomische
… na schön, formulieren wir es lieber so: Findet Ihr nicht auch, dass es reizvoll
wäre, den Mysterien des Lebens auf den Grund zu gehen?«
»Und das von einem Mönch, ich muss schon sagen!«,
amüsierte sich die Baderstochter und ahmte Bruder Hilperts Sprechweise genüsslich
nach. »Korrigiert mich, Bruder – aber ist nicht schon der heilige Augustinus [69] gegen Leichenöffnungen
zu Felde gezogen? Mit der Begründung, dies stelle einen Frevel wider den Herrn und
die Harmonie des menschlichen Körpers dar?«
»Gewiss doch. In ›De Civitate Dei‹.«
»Und?« Die junge Frau sah Bruder Hilpert herausfordernd
an. »Heißt das, Ihr wollt mich dazu anstiften, gegen die Lehren der Heiligen Mutter
Kirche zu verstoßen?«
»Durchaus nicht. Zumal es Stimmen gibt, die
der Auffassung des heiligen Augustinus widersprechen.«
»Die gibt es zweifellos. Was aber nicht heißt,
dass sie imstande gewesen wären, sich Gehör zu verschaffen. Schon gar nicht, wie
wir beide wissen, in Kreisen der Heiligen Mutter Kirche.«
»Damit wir uns richtig verstehen, Jungfer. Ich
hatte Euch eine Frage gestellt, nichts weiter.«
»Und ich, Bruder, habe mir erlaubt, Euch die
entsprechende Antwort zu geben.«
»Die da lautet?«
Das Lächeln auf dem Gesicht der jungen Frau
erstarb, und die Reserviertheit, durch die ihr Verhalten gekennzeichnet war, gewann
erneut die Oberhand. »Was mich betrifft, Bruder, ziehe ich es vor, meine Neugierde
auf das Entstehen menschlichen Lebens zu beschränken.«
»Mit anderen Worten – Eure Amme ist nicht nur
als Heilkundige, sondern darüber hinaus auch als Geburtshelferin tätig gewesen.«
Gerade eben noch voller Argwohn, verfiel die
Baderstochter in Resignation. ›Gewesen‹ ist das richtige Wort!«, antwortete sie
mit leerem Blick. »Und das alles nur, weil sie als Sündenbock herhalten muss.«
»Als Sündenbock? Für wen oder was denn, Jungfer?«
»Findet Ihr nicht, Bruder«, ahmte die Baderstochter
den weichen Tonfall von Bruder Hilpert erneut nach, »findet Ihr nicht, Eure Fragen
gehen etwas zu weit? Umso mehr, als dass sie nicht das Geringste mit Eurem Kasus
zu tun haben?«
Vom einen auf den anderen Moment todernst, trat
Bruder Hilpert der Baderstochter in den Weg und gab ihn auch dann nicht frei, als
er ihr Auge in Auge gegenüberstand. »An Eurer Stelle, Jungfer«, herrschte er die
sichtlich überraschte Heilerin an, »würde ich mich davor hüten, voreilige Schlüsse
zu ziehen. Vor allem, was den obwaltenden Kasus angeht.«
»Nichts läge mir ferner, Bruder,
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