Engel der Schuld Roman
wurde. Zerknitterte weiße Decken auf Feldern und Tälern, grau durchsetzt mit Wäldern. Und als sie sich Deer Lake näherten, überkam sie eine weitere unheimliche Rastlosigkeit beim Betrachten der Landschaft – die Vorstellung, daß die Täter in diesem Augenblick irgendwo da draußen waren, daß, wenn sie einfach nur in die richtige Straße einbiegen würden, sie vielleicht direkt an dem Haus vorbeifahren würden, in dem Dustin Holloman darauf wartete, gerettet zu werden.
Cameron nahm die Abfahrt am Big Steer Truck Stop und fuhr an Dealin' Swede's A 1 und an Manley's vorbei, zwei der größten Autogeschäfte, wo man um jedes Auto auf dem Platz ein gelbes Band gebunden und die Schaufenster mit dem Slogan »Bringt Dustin nach Hause« bemalt hatte. Selbst der riesige aufblasbare Gorilla, der über dem Dach des Pontiac-Händlers schwebte, war mit einem gelben Band geschmückt, das fröhlich um seinen Hals flatterte.
Während sie durch die Straßen der Stadt fuhren, sah Ellen immer wieder dieselben Symbole. Die Bänder an den Haustüren sollten Unterstützung bekunden und vielleicht das Böse abwehren. Die Poster, die an den Ladenfenstern klebten. Das neue Transparent, das der Stadtrat über der Hauptstraße hatte hochziehen lassen: »Beschützt unsere Kinder!«
Der Appell traf Ellen persönlich. Die Bürger wandten sich im Augenblick der Polizei zu, die ihnen sonst nur selten in den Sinn kam, sie erwarteten, daß das Verbrechen aufgeklärt wurde, ungeachtet des Mangels an Hinweisen. Sie wandten sich an das Gerichtssystem, über das sie kaum etwas wußten, riefen nach Gerechtigkeit um jeden Preis. Der Druck der stummen Forderungen legte sich auf ihre Schultern, verwandelte die Muskeln zu Stein.
»Wollen Sie zurück ins Büro« fragte Cameron. »Wir könnten versuchen, ein paar von Wrights alten Kumpeln erreichen.«
»Dieses eine Mal passe ich«, sagte Ellen. »Ich glaube, wir haben für heute genug gelitten. Ich will nur noch schlafen.«
»Ja, ich nehme an, daß Sie gestern nacht nicht viel Schlaf gekriegt haben.«
Wenn du w üß test.
Es schien unmöglich, daß sie die Nacht mit Brooks verbracht hatte. Es schien unmöglich, daß sie sich soweit hatte gehenlassen. Und ausgerechnet mit Jay Butler Brooks. Aber sie hatten die Hände nacheinander ausgestreckt . . . und es war unglaublich gewesen.
Und es war unglaublich kompliziert.
»Manley glaubt offenbar, daß ein Fluch auf Ihnen lastet«, sagte Cameron und stellte sich in Ellens Einfahrt neben den Bonneville. Die Fahrertür zierte ein großer Klecks grauer Grundierung, wo das Wort LUDER gestanden hatte.
»Können Sie's ihm verdenken? Offen gesagt: Ich hatte Angst, mein Auto in seiner Garage zu lassen. Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, daß sein Geschäft in Flammen aufgeht.«
» Sie sind nicht verantwortlich«, erinnerte Cameron sie. »Sie sind das Opfer.«
»Wie dem auch sei. Es ist gefährlich, mich zu kennen.«
»Wollen Sie, daß ich mit Ihnen reinkomme?«
»Nein.« Sie deutete auf den grauen Wagen. »Mitch hat mir einen Bewacher zugeteilt. Ich komme zurecht. Danke fürs Mitnehmen.«
»Versuchen Sie, ein paar Stunden lang keine Probleme zu haben«, sagte er mit einer sanfteren Version seines spöttischen Grinsens.
»Ich gehe früh ins Bett. Was könnte ich da schon für Probleme haben?«
Visionen von Jays Piratengrinsen tauchten aus ihrer Erinnerung auf, als sie den Bonneville in die Garage fuhr.
Mein Gott, Ellen«, murmelte sie, als sie ihre Aktentasche aus dem Wagen nahm. »Einen dümmeren Zeitpunkt hättest du dir wohl nicht aussuchen können, um deine Libido zu entwickeln.«
»Von mir wirst du keine Klagen hören.«
Sie wirbelte herum. Brooks kam aus dem Schatten der Garage. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich zu rasieren, war allenfalls mit den Fingern durch sein Haar gefahren.
»Verdammt«, beschwerte sich Ellen. »Ich muß mir keine Sorgen darum machen, daß Wrights Komplize mich erwischt. Du verpaßt mir vorher einen Herzinfarkt! Was zum Teufel hast du hier zu suchen?«
»Ich hatte meine Zweifel, was das Überwachungssystem angeht. Habe beschlossen, es selbst zu testen.« Er streckte die Hand aus und nahm ihr die Aktentasche ab. »Sie haben versagt.«
»Das sehe ich. Wie bist du reingekommen? Es war alles abgesperrt.«
Er zog eine Kreditkarte aus seiner Manteltasche und hielt sie hoch. »Geh nie ohne aus dem Haus. Ich habe eine Straße weiter geparkt, bin hintenrum gegangen, über deinen Zaun gesprungen . .
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