Engel der Schuld Roman
ich habe dich geschlagen. Wir haben dich geschlagen.
Sie konnte die Worte so deutlich hören, als ob er sie laut ausgesprochen hätte. Sie konnte sie sehen, tief in seinen Augen, in einem Moment wie jenem, den sie im Verhörraum des Stadtgefängnisses geteilt hatten. Einen Moment, den kein anderer sonst im Raum erlebt hatte. Sie konnte fühlen, wie die Reporter sie anstarrten. Sie konnte das Summen der Motoren ihrer Kameras hören, aber sie wußte, daß kein einziges Foto einfangen würde, was zwischen ihnen vorging.
Sie ignorierte die ausgestreckte Hand und richtete sich auf. »Ich mache immer noch meine Arbeit, Dr. Wright«, sagte sie leise. »Sie wissen ja, wie es heißt – es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist.«
»Was soll das heißen?« fragte Hannah schockiert, zitternd. Sie sank auf die Couch, denn ihre Knie gaben nach. Sie merkte, daß sie das tragbare Telefon mit beiden Händen umklammerte, weil ihre Fingerspitzen taub geworden waren und sie Angst hatte, es fallen zu lassen. »Das heißt, daß Wright ein freier Mann ist – für den Augenblick jedenfalls«, sagte Ellen North. »Aber es ist noch nicht vorbei, was mich betrifft. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um ihn vor Gericht zu bringen, Hannah. Das verspreche ich.«
Hannah starrte quer durch den Raum in die Ecke, in die Josh sich den ganzen Morgen zurückgezogen hatte. Er saß mit dem Gesicht zur Wand, die Knie hochgezogen, und versteckte sein Gesicht. Ihr Sohn war in ein mentales Gefängnis gesperrt, und der Mann, der ihn dahingebracht hatte, kam ungeschoren davon.
»Das haben Sie doch bereits getan, nicht wahr«, sagte sie verbittert und voller Enttäuschung.
»Es tut mir leid, Hannah. Was wir gegen ihn hatten, hätte genügen müssen, aber da sein Komplize noch auf freiem Fuß ist, und mit den Beweisen, die gestern aufgetaucht sind . . .«
Ellen verstummte. Sie versucht diplomatisch zu sein, dachte Hannah. Die Nachricht war auch schlimm genug ohne die Tatsache, daß Paul jetzt gesucht wurde, daß Joshs Kleidung in dem Lagerraum gefunden worden war, den Paul gemietet hatte, weil er einen vollgestellten Keller nicht ertragen konnte.
Mitch hatte es ihr mitten in der Nacht am Telefon mitgeteilt. » Ich wei ß nicht, wie ich es Ihnen beibringen soll, Hannah . . . Wir sind uns nicht sicher, was es bedeutet . . . Die Kleider sind vielleicht absichtlich dort versteckt worden, damit wir sie finden . . . Wir m ü ssen mit Paul reden . . . Sie wissen nicht zuf ä llig, wo er ist? «
Ich wei ß nicht, wer er ist, dachte sie. Ich wei ß nicht, was er geworden ist. Ich wei ß nicht, wozu er f ä hig sein k ö nnte. Ich wei ß nicht, warum Josh Angst vor ihm hat. Ich kann nicht fassen, da ß er mich geschlagen hat.
»Aber Mitch hat doch Wright festgenommen?« sagte sie mehr zu sich selbst als zu Ellen.
»Ich weiß. Mitch weiß. Costello hat soviel Staub aufgewirbelt, daß der Richter nur noch die Wolke gesehen hat. Wir brauchen nur ein bißchen mehr Zeit, noch mehr solide Beweise gegen Wright oder einen Durchbruch bei der Suche nach seinem Komplizen. Der wird kommen, Hannah. Halten Sie durch. Und bitte, lassen Sie es mich sofort wissen, wenn Josh etwas sagt über das, was passiert ist.«
Hannah hielt das Telefon in ihrem Schoß, obwohl die Verbin dung schon lange unterbrochen war. Ihre Leitung zur Gerechtigkeit, dachte sie, abgeschnitten, und ihr und ihren Kindern blieb nur das ausgefranste Ende dessen, was eine Rettungsleine hätte sein sollen, die sie aus dieser Qual herauszog.
Von allen Dingen, auf die sie hoffen konnte, schien Gerechtigkeit das realistischste, das am leichtesten erreichbare gewesen zu sein. Sie konnte auf Joshs Genesung hoffen, aber es gab keine Garantie, daß es nicht sehr lange dauern würde oder daß die Hoffnung am Ende nicht sogar noch zerstört werden würde. Sie hatte auf eine Reparatur des Risses in ihrer Beziehung mit Paul gehofft, aber dazu würde es nie mehr kommen. Ihre Ehe war vorbei. Und so hatte sie auf Gerechtigkeit gehofft. Es gab ein etabliertes Justizsystem, das über die Gerechtigkeit wachte. Es gab Leute, die Wert darauf legten, an ihrer Seite zu kämpfen. Aber beim Kampf um die Gerechtigkeit spielten nicht alle fair.
Lily kletterte zu ihr auf die Couch und griff nach dem Telefon. Sie hielt es mit beiden Händen hoch und begann ein fröhliches Gebrabbel, das immer wieder von dem Wort Daddy unterbrochen wurde.
Hannah dachte daran, Tom anzurufen, aber sie versagte sich diesen Trost. Zu allem
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