Engel der Verdammten (German Edition)
beiden Seiten in den oberen Stock führten.
»Wie heißt du?«, versuchte er es noch einmal, doch selbst unter dem hypnotischen Zwang seines Blicks blieb das Mädchen stumm.
Der Vampir zog das Mädchen hinter sich her in den Musiksalon, dessen hohe Sprossenfenster den Blick auf die Elbe freigaben. Bücherregale erstreckten sich an den Wänden bis zur Decke, doch beherrscht wurde der Raum von einem schwarz glänzenden Konzertflügel. Normalerweise hatte man durch die Flügeltüren und von der Terrasse einen atemberaubenden Blick über den Fluss und das Alte Land, das sich im Süden am anderen Ufer erstreckte, doch heute verhüllte der Nebel die Sicht.
Peter von Borgo führte das Kind in die Mitte des Raums, ließ seine Hand los und trat einige Schritte zurück, um es zu betrachten. Da stand es in seinem dünnen, durchnässten Kleid und der schmutzigen Strickjacke, zitternd vor Angst und vor Kälte, doch es hielt den Blick unverwandt auf den Vampir gerichtet, der es nachdenklich musterte.
Das Mädchen war vielleicht fünf Jahre alt und, soweit er das beurteilen konnte, selbst dafür recht klein. Und dünn. Seine Rippen waren unter dem nassen Stoff zu erahnen. Das Haar war schwarz und hing ihm glatt bis auf die Schultern. Die großen, dunklen Augen, aus denen es zu ihm aufsah, verrieten seine asiatische Abstammung, wobei er nicht hätte sagen können, aus welchem Land seine Eltern stammten.
Er wusste noch immer nicht, warum er das Kind mitgenommen hatte und was er jetzt mit ihm anfangen sollte, doch erst einmmal musste es aus den nassen Sachen raus, sonst würde es sich den Tod holen. Peter von Borgos Erinnerung an das Gefühl von Kälte war zwar im Laufe der Jahrhunderte verblasst, doch er wusste um die Empfindlichkeit der Menschen.
»Komm«, sagte er noch einmal und führte das Kind nach oben in das altmodische Badezimmer, das nur noch selten benutzt wurde. Nur Sabine wärmte sich hier ab und zu in der Badewanne mit den bronzefarbenen Klauenfüßen, wenn ihr nach einer flotten Fahrt auf dem Motorrad kalt geworden war.
Peter von Borgo ließ warmes Wasser in die Wanne einlaufen, dann griff er nach dem Arm des Mädchens, um ihm die nasse Jacke auszuziehen, doch zum ersten Mal wich das Kind zurück.
»Komm her! Ich tu dir nichts. Du sollst dich nur aufwärmen. Magst du denn nicht baden? Ich dachte, Kinder lieben das.«
Zögernd kam das Kind wieder näher und ließ sich die Jacke abstreifen. Doch als er ihr das Sommerkleid über den Kopf ziehen wollte, hielt Peter von Borgo mitten in der Bewegung inne und spitzte überrascht die Lippen.
»Ja, was ist denn das?«
Er zog das Kind noch ein Stück näher und beugte sich über seinen Arm. Das Mädchen folgte seinem Blick. Da quollen ihm unvermittelt Tränen aus den Augen und rannen über seine Wangen.
»Schsch«, hauchte der Vampir, obgleich das Mädchen keinen Ton von sich gab. Sein Blick glitt aufmerksam über die schwarzen Schriftzeichen, die den Arm des Kindes bedeckten. Im ersten Moment dachte er, das Kind hätte sich vielleicht selbst mit einem Stift bemalt, so ungelenk wirkten die Zeichen. Aber es war nicht die Kritzelei eines Kindes. Jemand hatte ihm eine Botschaft hastig und drängend auf den Arm geschrieben. In einer Sprache, die ihm nicht geläufig war.
Tief in Gedanken zog Peter von Borgo dem Kind das Kleid über den Kopf, streifte Sandalen und Höschen ab und hob es in die Wanne, ohne den Blick von den seltsamen Zeichen zu wenden. Dann nahm er ein Stück Seife und begann, mit einem Waschlappen sanft die zarte Kinderhaut zu waschen, die in der Wärme des Badewassers ihre rosige Farbe zurückgewann. Der Lappen glitt über die dünnen Arme und ließ die fremdartigen Buchstaben verblassen. Grauer Seifenschaum tropfte in die Wanne, bis auch die letzte Spur der Botschaft getilgt war.
Die Sonne näherte sich dem Horizont. Kommissarin Sabine Berner stand im Garten unter den alten Bäumen und sah von den Höhen des Geestrückens den wandernden Schatten zu, die nur quälend langsam verblassten. Endlich erlosch auch das letzte Glühen über dem Alten Land. Nur die vom stürmischen Nordwind getriebenen Wolken spiegelten noch den Schein des vergangenen Tages wider.
Der Augenblick war gekommen. Jetzt würde er erwachen. Seine Lunge würde beginnen, Luft zu atmen, die er nicht brauchte, denn kein Herz schlug mehr in dieser Brust, kein Leben erfüllte diesen Körper, der Sabine dennoch lebendiger schien als die meisten Menschen, kraftvoll, männlich,
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