Engel der Verdammten (German Edition)
als das Motorrad herumschwang und immer langsamer werdend auf das geschlossene Tor zusteuerte, vor dem der Fahrer die Maschine zum Halten brachte. Der Motor erstarb, und die eintretende Stille schien plötzlich so dicht wie der schwere Nebel über der Straße zu liegen. Bedächtig stieg der Mann von seiner Maschine. Er hob ein wenig den Kopf und schien wie ein Tier in die Nacht zu wittern. Rote Augen leuchteten auf und tasteten die Hecke ab. Falls das Mädchen dachte, in der Dunkelheit seines Verstecks unsichtbar zu sein, wurde es eines Besseren belehrt.
Der Mann kam langsam näher, bis kein Zweifel mehr daran bestehen konnte, dass er das Kind entdeckt hatte. Langsam ging er in die Knie, bis sein Gesicht auf Kopfhöhe mit dem Mädchen war. Vermutlich bemerkte das Kind nicht, dass der Mann vor ihr keinen Schatten warf, und es machte sich auch keine Gedanken über die rot glühenden Augen, aus denen er es aufmerksam musterte. Für das Mädchen war er nur ein Fremder. Die Angst ließ es noch stärker zittern als die Kälte.
»Guten Abend«, sagte seine weiche, samtene Stimme.
Das Kind rührte sich nicht. Es starrte ihn nur an, ohne auch nur zu blinzeln.
»Ist es nicht ein wenig zu spät für so eine junge Dame wie dich?«
Wieder reagierte die Kleine nicht.
»Wie heißt du?«
Keine Reaktion – und so verzichtete Peter von Borgo darauf, weiter nach den Namen ihrer Eltern und ihrer Adresse zu fragen. Vermutlich wusste sie das in ihrem Alter noch nicht einmal. Er war sich nicht sicher. So genau kannte er sich mit Kindern nicht aus.
Das kleine Mädchen roch verführerisch. Es war ihm, als könne er den herrlichen Geschmack seiner Unschuld bereits auf der Zunge spüren. Sein Blut war noch so süß und rein. Seine Zähne stießen drängend hervor und wuchsen, dass ihre scharfen Spitzen zwischen seinen blassen Lippen erschienen.
Du willst dich an diesem unschuldigen Ding vergreifen?, erklang plötzlich eine scharfe Stimme in seinem Kopf, die sich in letzter Zeit öfters meldete, wenn er seinem ganz natürlichen nächtlichen Drang folgte.
Das darfst du nicht! Hast du denn überhaupt kein Gewissen?
Nein! Er war ein Vampir, kein Mensch. Was gingen ihn die Regeln und die Moral der Menschen an? Was ihre Gesetze? Noch dazu, wo so viele von ihnen ohne auch nur einen Hauch von Schuldgefühl gegen sie verstießen, gerade hier in Hamburg. Und doch mischte sich die Stimme der Kommissarin immer wieder ungefragt ein.
Peter von Borgo spürte, wie sich seine Zähne wieder zurückzogen. Der Appetit war ihm vergangen. Verdammt! Der Vampir unterdrückte einen Seufzer. Was sollte er jetzt tun? Einfach weiterfahren, das Kind vergessen und nach einer geeigneteren Beute Ausschau halten?
Er wusste, was Sabine sagen würde. Und außerdem war seine Neugier geweckt. Normal war das nicht. Vielleicht ein Geheimnis, das seine Langeweile vertreiben würde?
»Komm!«, sagte er sanft und streckte die Hand nach dem Mädchen aus.
Es konnte dieser Stimme nicht widerstehen. Kein Mensch konnte das. Nun ja, fast keiner, korrigierte sich der Vampir im Stillen und dachte an die wenigen Menschen, die ihm während seiner mehr als dreihundert Jahre währenden Existenz als ein Wesen der Nacht erfolgreich Widerstand geleistet hatten. Die Letzte war Aletta gewesen, eine bemerkenswerte junge Frau aus Blankenese, die schon als Mädchen seine nicht menschliche Aura hatte erspüren können. Aletta, deren Hexencoven ihr den Namen Artemis gegeben und die sich für ihre Freundinnen geopfert hatte. Aletta, die ihren letzten Atemzug in seinen Armen ausgehaucht hatte.
Ein seltsames Gefühl stieg in ihm auf, das er so nicht kannte. Er ignorierte es und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Mädchen, das auf ihn zutrat und die kleine, eisige Hand in die seine schob.
Das war unsinnig! Völlig verrückt und vielleicht sogar gefährlich für ihn, dennoch führte er das Mädchen zu seinem Motorrad, hob es auf den Sitz und schwang sich hinter ihm auf die schwere Maschine. Das Motorengeräusch zerriss die nächtliche Stille, dann raste die Hayabusa nach Blankenese zurück.
In seiner Blankeneser Villa auf dem Geesthang über der Elbe schob der Vampir das Motorrad in die Garage. Lautlos schloss sich das schmiedeeiserne Tor zur Einfahrt hinter ihm. Er führte das Mädchen zum Haus und ließ es in die Halle treten. Noch immer hatte es keinen Laut von sich gegeben und sah sich auch jetzt nur stumm in der düsteren Halle um, von der aus zwei geschwungene Treppen zu
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