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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Geste streckte er mir abwehrend die Arme entgegen: ›Fort mit dir, Geist, befreie die Luft von dir, zurück mit dir in die Gebeine, von wo du kamst.‹
    Ein seidig-kühler Schauer fuhr mir durch die Glieder. Doch ich hielt stand. ›Rabbi, du hast gesagt, er hat sie getötet. Sag mir, ob es wirklich so war. Ich habe die Mörder Esthers erschlagen.‹
    ›Weiche von hier, Geist!‹ Er schlug die Hände vors Gesicht und wandte den Kopf ab. Seine Stimme wurde kräftiger. Er trat hinter seinem Pult hervor und schlug einen Kreis um mich, dabei rief er die Worte abermals, lauter und akzentuierter, während er mir die Hände entgegenstreckte. Ich spürte, wie ich schwächer wurde. Ich spürte Tränen auf meinen Wangen.
    ›Warum, Rabbi, sagtest du, er habe Esther töten lassen? Sag es mir, und ich werde sie rächen. Die gemieteten Schurken habe ich schon umgebracht. O Herr der Heerscharen, als Jahwe zu Saul und David sprach, sprach er: »Erschlaget sie alle, Männer, Frauen und Kinder!« Und Saul und David ge-horchten. War es nicht recht, diese drei schmierigen Kerle zu erschlagen, die ein unschuldiges Mädchen ermordet hatten?‹
    ›Fort mit dir, Geist!‹, schrie er. ›Fort mit dir! Fort mit dir. Ich will keinen Umgang mit dir. Fort mit dir in die Gebeine!‹
    ›Ich verfluche dich, ich hasse dich!‹, sagte ich zu ihm, doch meine Worte hatten keinen Klang.
    Ich begann, mich aufzulösen. Mein Körper, alle Teilchen, die ich um mich geschart hatte, lösten sich auf, als habe der Wind den Weg unter der Tür hindurch gefunden und mich erfasst.
    ›Fort mit dir, Geist, fort von hier, fort von meinem Haus und von mir.‹
    Schwarze Dunkelheit.
    Doch ich konnte nicht aufhören zu denken.
    Ich konnte nicht aufhören zu sein.
    Ich werde dich wieder sehen, alter Mann.
    Träume suchten mich heim, als läge ich in tiefem Schlaf wie ein Mensch, und mein Verstand hatte sich den sterblichen Lehrern geöffnet. Nein, Asrael, nein. Verlöschen, ja, aber nicht träumen.
    Dennoch sah ich das Gesicht Samuels vor mir; Straßburg; ein weiteres Heiligtum voller Schriftrollen und Bücher, und es stand in Flammen. Ich vernahm meine eigene Stimme: ›Nimm meine Hand, Gebieter, nimm mich mit dir in den Tod.‹ Samuel, sei verdammt! Verdammt sei auch du, alter Mann.
    Seid alle verdammt, ihr Gebieter!
    Von einem Hügel blickte ich auf das kleine Straßburg nieder.
    Ach, meine Sicht war getrübt; als ich dir davon berichtete, sah ich viel klarer.
    Aber es war der Ort, ich erkannte ihn. Ich wusste, dass die Juden dort litten. Und ich wusste, ich war einer von ihnen. Und doch konnte ich ihnen nicht angehören. Und die Glocken dröhnten. Die Glockenklänge hallten hochmütig von den Kirchen der Mörder. Und der Himmel war der stille, lastende Himmel vergangener Zeiten - sechshundert Jahre von heute -, als die Luft noch keine elektronischen Stimmen mit sich trug und man die Glocken ganz deutlich hören konnte.
    ›Asrael.‹ Geplapper. Wind. Die Unsichtbaren kamen, näherten sich durch trüben Dunst, schlossen mich ein, drängten sich an mich, rochen die Schwäche, die Angst und den Schmerz. ›Asrael!‹ Die grollenden Stimmen der neidischen, erdgebundenen Seelen umgaben mich, diese gierigen, verzweifelten, erdgebundenen Toten.
    Lasst mich in Ruhe. Ich will meine Erinnerungen.
    Ich wollte alles wissen. Ich wollte an ihnen vorbeipreschen, wie ich an den Menschen auf dem Gehweg vorbeigeprescht war, als Esther mich ansah. Ich wollte mich erinnern, ich wollte ...
    Für eine Sekunde stand ich klar und hell, fixierte den Rabbi, doch der Rabbi war riesig und seine Stimme klang lauter als der Sturmwind.
    Fort mit dir, Geist! Ich gebiete dir! Die Wut färbte das Gesicht des Alten blutrot.
    Fort mit dir, Geist!
    Seine Worte trafen mich hart. Sie verletzten mich. Sie waren wie Peitschenhiebe. Gib mir das Schweigen. Jetzt brauche ich es. Wenn schon nicht Frieden, dann wenigstens Stille - Stille und Dunkelheit. Es könnte schlimmer sein, Asrael.
    Es könnte schlimmer sein.
    Verletzt zu werden ist arg, aber ärger ist es, mit einem hasserfüllten Lächeln die Unschuldigen zu töten.«

    17

    »Vielleicht hätte ich etwas unternehmen sollen. Ich hätte versuchen können, den Raum unversehrt zu verlassen und Gregory zu folgen. Immerhin hatte ich einen sichtbaren Körper, noch dazu mit perfekter Kleidung versehen. Ich hätte ihm auf den Fersen bleiben sollen. Ich hätte ungebunden durch Brooklyns Straßen schlendern und mehr über die Welt herausfinden können, einfach

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