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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Ernsthaftigkeit eines Gottes ausbrüten, und schon haben wir sie am Hals. Und das sind so gewöhnliche Pläne, Rituale, Traditionen, das Gesetzte, das Regulierte, das Stink-normale ... du weißt, was ich meine, du verstehst mich.‹
    Und wie ich ihn verstand.
    ›Also, ich habe mich ihnen entgegengestellt, und sie würden sich gegen mich stellen, aber ich bin zu mächtig für sie, und meine Träume sind so, dass ihre kleinliche Schlechtigkeit dagegen kümmerlich wirkt.»
    ›Meine Güte, du hast eine aalglatte Zunge‹, sagte ich, ›und du verrätst mir so vieles mit deinen Worten. Warum mir?‹
    ›Weil du ein Geist bist, ein Gott, ein Engel, mir allein gesandt.
    Du warst Zeuge von Esthers Tod, weil sie das Lamm war.
    Verstehst du nicht? Du erschienst, als sie starb, wie ein Gott, der ein Opfer entgegennimmt!‹
    ›Ich fand ihren Tod schrecklich. Ich habe die drei Männer umgebracht, die sie getötet haben.‹
    ›Du warst das.‹ Er war verblüfft.
    ›Ja, die Eval-Brüder. Ich habe sie getötet. Es steht in den Zeitungen. In den Nachrichten hört man, dass auf der Waffe sowohl ihr Blut als auch Esthers ist. Ich habe das getan! Weil ich ihr übles Vorhaben nicht verhindern konnte. Und von was für einem Opfer redest du? Warum sagst du, sie ist das Lamm?
    Wo war denn da ein Altar? Und wenn du glaubst, ich sei ein Gott, dann bist du ein Dummkopf. Ich hasse Gott, ich hasse alle Götter. Ich hasse sie!‹
    Er war fasziniert. Er schob sich dicht an mich heran, trat dann wieder einen Schritt zurück, ging schließlich im Zimmer umher, zu erregt, um stillzustehen. Wenn er wirklich schuld am Tod seiner Tochter war, ließ er sich davon nichts anmerken. Er schaute mich an, hingerissen von unserer Unterhaltung.
    Da fiel mir etwas auf: Die Haut seines Gesichts war verändert worden! Ein Chirurg hatte sie über den Knochen gestrafft. Ich musste über die geniale Idee lachen, und auch über die Folgerung daraus, dass in diesem Zeitalter viele Dinge ganz einfach möglich waren. Und zutiefst erschrocken dachte ich, vielleicht liegt der Grund, warum ich hier und heute aufgetaucht bin, in den Gräueln und den Wunden dieser Zeit, und vielleicht erhalte ich ja eine Chance, von nun an als Ganzes lebendig zu sein?
    Das ließ mich zusammenzucken, und Gregory öffnete schon den Mund zu einer neuen Frage. Ich hob die Hände, um ihm zu zeigen, dass er schweigen solle.
    Ich wollte Abstand von meinen Gedanken. Ich starrte auf die glänzenden Knochen, beugte mich nieder und legte meine Finger, meine materialisierten Finger, auf meine Knochen.
    Sofort hatte ich ein Gefühl, als berühre mich jemand, den ich meinerseits berührte. Ich spürte, dass mich jemand am Bein berührte, spürte meine Hände auf meinem Gesicht, als ich die Finger auf den Schädel legte. Trotzig schob ich meine Daumen in die leeren Augenhöhlen, dorthin, wo einst meine Augen gewesen waren, meine Augen ... etwas kochte, etwas war undenkbar scheußlich - ich stieß einen leisen Ton aus, der mich beschämte.
    Der Raum schwankte, erhellte sich, zog sich zusammen, als wolle er sich selbst verschlingen. Nein, bleib, Asrael. Bleib hier m diesem Zimmer. Bleib hier bei ihm! Aber das war ja alles nur Einbildung, wie die Sterblichen zu sagen pflegten. Mein Körper hatte keinerlei Schwäche gezeigt. Ich stand immer noch aufrecht da.

    Ich öffnete die Augen langsam, blinzelte, schaute auf die golden schimmernden Gebeine vor mir. Eisen hielt sie in dem durchscheinend gewordenen Tuch, Eisen hielt sie in dem alten Holz der Truhe, doch es war noch die gleiche Truhe, durchdrungen von all den Ölen, die sie bis ans Ende aller Zeiten haltbar machen sollte, haltbar wie die Gebeine selbst. Ein Bild von Zurvan durchzuckte mich, und damit kam eine Flut von Worten ... lieben, lernen, erfahren, lieben ...
    Und wieder erschienen vor meinen Augen die blau glasierten Ziegelmauern einer Stadt, goldene Löwen, Schreie aus vielen Kehlen, und der Prophet zeigte mit dem Finger auf mich und schrie etwas in altem Hebräisch, und Gesänge wogten auf und nieder.
    Irgendetwas war damals geschehen. Ich hatte etwas getan, irgendetwas Unaussprechliches, das mich zu diesem Geist hatte werden lassen, zu diesem Geist, der vielen meinem Ge-dächtnis entfallenen Gebietern gedient hatte.
    Aber wenn ich mich weiter damit befasste, würde ich mich möglicherweise auflösen. Oder auch nicht.
    Ich stand unbeweglich da, rührte mich nicht, aber keine weitere Erinnerung tauchte aus den Tiefen meines Gedächtnisses auf.

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