Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
zu schweben, und die Stadt schien uns tröstend in die Arme zu schließen.
    In der Feuerstelle war Holz aufgeschichtet, so als sei schon tiefster Winter, obwohl der doch noch auf sich warten ließ.
    Alle Türen dieses Raumes waren doppelflügelig, mit graziös geschwungenen vergoldeten Griffen, und die Sprossen der kleinen glänzenden Spiegelscheiben hatten ein aufwändig gearbeitetes Profil.
    Ich drehte mich um und um und saugte all dies gierig in mich auf und versuchte möglichst viele Schlussfolgerungen daraus zu ziehen, wobei ich zweifellos aus Quellen schöpfte, über die ich mir wie immer in solchen Situationen nicht ganz im Klaren war. Ich stutzte bei jedem neuen Objekt, das mir vor die Augen kam, bis ich erkannte, was es war. Kleine Statuetten aus China, eine griechische Vase, deren vertraute Form ich sehr tröstlich fand, und üppige gläserne Vasen mit Blumen - all diese Dinge standen auf Sockeln und Podesten.
    Die im Raum verstreuten Couches und Sessel waren mit pfirsich- und goldfarbenem Samt bezogen. Es gab Tischchen mit glänzenden Oberflächen, Krüge mit herrlichen Lilien und dik-ken, goldgelben Tausendschönchen - so sahen sie jedenfalls für mich aus -, und unter der ganzen Pracht lag ein riesiger quadratischer Teppich, der vom Rand des Halbkreises bis kurz vor die Fenster reichte.
    Der Teppich war eine herrlich detaillierte Arbeit, die den Baum des Lebens zeigte. Die Vögel des Himmels saßen darin, und es gab himmlische Früchte, und unter den Ästen wanderten winzige Gestalten in asiatischer Tracht umher.
    So war es schon immer gewesen: Die Welt änderte sich, die Welt wurde komplizierter, die Welt wurde reicher an neuen Erfindungen und manchmal auch an Abscheulichkeiten, und doch tauchten die Formen, die aus meiner Zeit stammten, immer wieder rings um mich her auf. Jedes Ding in diesem Raum war auf irgendeine Art mit den ältesten bekannten Vorstellungen von Ästhetik verbunden.
    Mir schoss die Vorstellung durch den Kopf, dass in diesem Teppich die längst untergegangenen Stämme Israels lebendig waren, die, die einst verschachert wurden, als Nebukadnezar über das nördliche Königreich herfiel, doch das war weit vor der Einnahme Jerusalems. Bilder von Schlachten und von Feuersbrünsten zogen an meinen Augen vorbei.
    Asrael, reiß dich zusammen.
    ›Verrate mir doch‹, sagte ich und verbarg mein Entzücken über all diese Dinge, meine Schwäche für sie, meinen Hunger nach ihnen, ›was hat es mit diesem »Tempel vom Geiste Gottes« auf sich, dass sein Hohepriester in solchem Glanze lebt?
    Dies ist doch eine Privatwohnung. Bist du der Dieb und Schar-latan, als den dich dein Großvater bezeichnet hat?‹
    Er antwortete nicht darauf, aber man sah ihm an, wie ihn das entzückte. Er ging um mich herum, ließ mich nicht aus den Augen und wartete gespannt, dass ich weitersprechen würde.
    ›Da liegt eine aufgeschlagene Zeitung, gerade so, wie du sie zurückgelassen hast‹, sagte ich. ›Ah, Esthers Bild ist darauf.
    Esther lächelt für die Historiker, für die Öffentlichkeit. Und neben der Zeitung, was ist das da in der Kanne? Schwarzer Kaffee. Die Tasse riecht nach dir. Ich nehme deinen Geruch an ihr wahr. Dies sind deine privaten Räume, dein Ort der Ent-spannung. Dein Gott ist verdammt reich, ob vom Geist oder Ungeist.‹ Ich nahm mir Zeit für ein Lächeln. ›Und du bist ein reicher Priester.‹
    ›Ich bin kein Priester‹, stellte er fest.
    Durch eine der Türen in der geschwungenen Wand traten zwei Männer ein, ungelenke junge Burschen in gestärkten weißen Hemden und dunklen Hosen. Gregory wirkte irritiert.
    Auf eine schnelle, befehlende Handbewegung von ihm hin verließen sie den Raum und schlossen die Tür hinter sich.
    Wir waren wieder unter uns. Ich spürte, wie ich atmete, wie meine Augen sich in ihren Höhlen bewegten, und ich spürte ein solches Verlangen nach all diesen materiellen, die Sinne ansprechenden Dingen, dass ich hätte weinen mögen. Und ich hätte geweint, wenn ich allein gewesen wäre.
    Ich musterte ihn misstrauisch. Lichter, real und als Reflektion, blinkten wie der Pulsschlag der Nacht. Lichter waren hier so zahlreich und so lebensnotwendig wie Wasser in früheren Zeiten. Die Lampen waren beachtliche, aus Bronze gegossene Stücke mit protzig verzierten gläsernen Schirmen in der Farbe von altem Pergament. Licht, Licht, Licht.
    Gregorys Begeisterung war unverkennbar. Er konnte sich kaum zügeln und vom Reden abhalten. Am liebsten hätte er mich mit Fragen

Weitere Kostenlose Bücher