Engel der Verdammten
entlang führte. Ich wollte einiges von ihm erfahren. Ich wollte alles wissen. Ich ging nicht auf seine Worte ein.«
18
»Wir gingen den Gang entlang; Gregory, mir voran, ließ seine Schritte selbstbewusst auf dem Marmor hallen, ich hinter ihm, geblendet von den mit pfirsichfarbener Seide bespannten Wandpaneelen. Auch der Fußboden hatte diese herrlich satte Farbe.
Wir schritten an einer Menge Türen vorbei, eine davon, auf der rechten Seite, stand offen. Das war ihr Zimmer, und sie - Esthers Mutter - war da.
Ich blieb stehen und lugte hinein, das war unpassend, aber was ich dort vorfand, erstaunte mich.
Das Zimmer war ein üppig ausgestattetes Schlafgemach, in leuchtendem Rot gehalten, mit ebenfalls roten Draperien aus Seide, die an der Decke befestigt waren und von dort über die Bettpfosten herabhingen. Der Boden war auch hier aus Marmor, aber diesmal schneeweiß.
Doch bemerkenswerter als diese Einrichtung war der Anblick der Frau - es war die, die ich hatte weinen hören. Sie saß auf einer niedrigen Couch; das glänzende Gewand, das sie trug, war luftig leicht und ebenso knallrot wie das ganze Drum und Dran des Zimmers. Ihr Haar war pechschwarz, wie Esthers, wie meines - wenn man so will -, und ihre Augen waren ebenso riesig wie die von Esther und zeigten das gleiche fast glei-
ßende Weiß. Doch ihr Haar, das weit über ihren Rücken hinabfiel, war durchzogen von silbernen Strähnen, das war, als hätten die Jahre ihr einen Schmuck geschenkt.
Pflegerinnen in weißer Tracht umringten sie. Eine eilte herbei, um die Tür zu schließen. Doch die Frau hob den Kopf und sah mich. Ihr Gesicht war verquollen, fahl und von Tränen nass.
Aber sie war nicht alt. Sie war wohl bei Esthers Geburt noch sehr jung gewesen. Sie richtete sich sofort auf.
Doch die Tür fiel zu, und das Schloss klickte. Ich hörte sie rufen: ›Gregory!‹
Er blieb nicht stehen, griff hinter sich nach meiner Hand und zog mich - seine warme glatte Hand in der meinen - zu sich auf seine Höhe.
Hinter den Türen hörte man Flüstern. Drähte in den Wänden übertrugen die leisesten Töne. Doch ich konnte nicht hören, ob die Frau noch weinte.
Wir betraten den Hauptraum, der halbkreisförmig und mit einer kuppelartigen Decke versehen war, das Ganze aufs Großar-tigste ausgestattet. Die Außenwand bestand aus einer Reihe von in zwölf gleich große Felder eingeteilten Sprossenfen-stern, die vom Boden bis zur Decke reichten, und die Türen in dem Halbrund hinter unserem Rücken waren genauso gestaltet und in gleichmäßigen Abständen in die Wand eingelassen.
Es war mehr als großartig.
Der Anblick der Nacht in ihrer zeitlosen, lieblichen Schönheit packte mich mit aller Macht. Jenseits einer tiefen dunklen Kluft standen turmgleiche Häuser, übersät von einem Muster unglaublich regelmäßiger Lichtpunkte. Aber dann wurde mir klar, dass alle Gebäude diese schnurgeraden Fensterreihen hatten, dass dieses Zeitalter einer mathematisch anmutenden Präzi-sion huldigte.
Mir schwirrte der Kopf. Informationen drangen auf mich ein.
Ich bemerkte, dass die Fenster des Raumes nicht, wie ich vermutet hatte, auf einen dunklen Fluss zeigten, sondern auf einen ausgedehnten Park. Ich roch den Duft der Bäume. Als ich hinabschaute, erstaunte es mich zu sehen, wie hoch über dem Boden wir uns tatsächlich befanden; die winzigen Gestalten der Menge, die sich noch immer vor der Einfahrt dort unten drängte, bewiesen es mir ebenso wie die berittenen Polizisten, die sich dazwischen bewegten wie eingekesselte Kavalleristen auf einem Schlachtfeld. Wie das Gewimmel von Ameisen. Ich wandte mich dem Zimmer zu. Die Türen hinter uns in der geschwungenen Wand waren nun alle geschlossen. Ich konnte nicht mehr sagen, durch welche wir hereingekommen waren.
Plötzlich ließ meine Aufmerksamkeit nach, und ich fühlte mich geradezu besessen von dem Gedanken an Esthers weinende Mutter. Doch für den Augenblick musste ich das beiseite schieben.
Genau in der Mitte des Halbrunds stand ein riesiger, unförmiger, großer Kamin, natürlich auch aus weißem Marmor, kalt und überwältigend wie ein Altar. Löwen flankierten ihn, und über einem Sims oberhalb der Feuerstelle war ein gewaltiger Spiegel angebracht, der die Fensterreihe reflektierte.
Tatsächlich erstrahlten rings um mich immer neue Spiegelbilder. Die jeweils zwölf Felder in den Türen der rückwärtigen Wand bestanden ebenfalls aus Spiegelglas. Welche Trugbilder das doch auslöste! Wir schienen in diesem Palast
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