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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Ich zog die Hände zurück. Still schaute ich auf die Gebeine hinab.
    Gregory schreckte mich auf.
    Er rückte näher und berührte mich. Darauf war er schon die ganze Zeit wild gewesen. Wie sein Puls raste. Es war ein herrlich erotisches Gefühl, als seine sterblichen Hände meine gerade erst erschaffenen Arme berührten. Wenn ich immer noch an Kraft hinzugewann, so merkte ich es zumindest nicht mehr unmittelbar. Ich fühlte nur die Welt um mich. Fühlte mich für den Moment sicher in ihr.
    Gregorys Finger hielten die Ärmel meines Mantels umklammert, er hielt den Blick darauf geheftet und betrachtete die sorgfältige Arbeit, die glänzenden Knöpfe, die präzisen Stepp-stiche. Und all dies hatte ich in aller Eile unter Benutzung der alten Befehle auf mich projiziert, die mir wie von selbst in den Sinn kamen. Ich hätte mich jetzt auch einfach in eine Frau verwandeln können, nur um ihm Angst zu machen. Aber das wollte ich nicht. Ich war ganz einfach glücklich, Asrael zu sein, und Asrael hatte selbst zu viel Angst.
    Und doch ... wo lagen die Grenzen dieser nicht von einem Meister gesteuerten Macht? Ich dachte mir einen Scherz aus, einen bösen Scherz. Lächelnd flüsterte ich all die vertrauten Worte, dachte mir honigsüße Beschwörungen aus - und verwandelte mich in Esther.
    In ein Abbild Esthers. Ich fühlte ihren zarten Körper, schaute durch ihre Augen, lächelte und spürte sogar die eng anliegen-de Kleidung auf meiner Haut, die sie an ihrem letzten Tag getragen hatte. Blitzartig tauchte vor meinen Augen der mit dem Tierfell bedruckte Mantel auf.
    Gott sei Dank, ich musste diesen Anblick wenigstens nicht selbst ertragen! Gregory tat mir Leid.
    ›Hör auf damit!‹, brüllte er. Er war rücklings zu Boden gefallen, kroch auf allen vieren von mir davon und stützte sich dann auf die Ellenbogen auf.
    Ich nahm wieder meine vorherige Gestalt an. Ich hatte es vollbracht, und Gregory hatte keinerlei Kontrolle über mich gehabt! Ich hatte die Kontrolle darüber gehabt! Ich fühlte Stolz, aber auch so etwas wie Bosheit.
    ›Warum hast du sie das Lamm genannt? Warum sagt der Rebbe, dass du sie getötet hast?‹
    ›Asrael‹, antwortete er, ›höre mir jetzt gut zu.‹ Mühelos wie ein Tänzer richtete er sich wieder auf und ging auf mich zu.
    ›Was auch immer passieren wird, was es auch sein mag, erinnere dich an das, was ich jetzt sage. Die Welt gehört uns. Die Welt, Asrael.«
    Ich war bestürzt. ›Die Welt, Gregory?‹ Ich versuchte, hart und gerissen zu klingen. ›Was meinst du damit?‹
    ›Ich meine die ganze Welt, wie Alexander sie verstand, als er sich aufmachte, sie zu erobern.‹
    Er schaute mich bittend, geduldig an. ›Was weißt du eigentlich alles, Geist? Sagen dir die Namen Bonaparte oder Peter der Große oder Alexander etwas? Sagt dir der Name Echnaton etwas oder vielleicht Konstantin? Kennst du irgendeinen von ihnen?‹
    ›Ich kenne sie alle und noch viel mehr, Gregory‹, antwortete ich. ›Sie alle waren Kaiser, Eroberer. Nicht zu vergessen Tamerlan und Scanderbeg. Und später Hitler, Hitler, der Millionen unseres Volkes ermordete.‹
    ›Unser Volk‹, sagte Gregory leise lächelnd. ›Ja, wir gehören zum gleichen Volk, nicht wahr? Ich wusste es sofort. Ich wusste es.‹
    ›Was heißt, du wusstest es? Der Rabbi hat es dir gesagt. Er hat es von der Schriftrolle abgelesen. Und was bedeuten dir diese Eroberer? Wer herrscht hier in diesem elektrifizierten Paradies, das New York heißt? Du bist ein Mann der Kirche, sagt der Rabbi. Du bist auch ein Händler. Du besitzt Millionen, in welcher Währung auch immer. Glaubst du, dass Scanderbeg in seiner Balkanfestung je einen solchen Reichtum hatte oder dass Peter der Große je solche Luxusgüter nach Russland brachte, wie du sie besitzt? Die hatten alle nicht deine Macht. Das war gar nicht möglich. Ihre Welt war nicht dieses Netz aus elektronischen Stimmen und Lichtern.‹
    Er lachte entzückt auf, und seine Augen funkelten herrlich.
    ›Ja, das ist es ja eben. Heute in unserer Welt, die so voller Wunder ist, hat eben niemand eine solche Macht. Niemand hat die Kraft, die Alexander innewohnte, als er die griechische Philosophie nach Asien brachte. Heute wagt niemand mehr, zu töten wie Peter der Große, der seinen ungehorsamen Soldaten eigenhändig die Köpfe abschlug, bis seine Arme in Blut getaucht waren.‹
    ›Ja, eure heutige Zeit ist so schlecht nicht‹, sagte ich. ›Ihr habt führende Köpfe, ihr habt Gespräche, es gibt Reiche, die gut zu

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