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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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bestürmt, alles Wissen aus mir herausgeso-gen. Ich blieb ungerührt, stur, als sei ich ein realer Mensch und hätte das gleiche Recht wie jeder andere, einfach still und ganz ich selbst zu sein.
    Ein Luftzug durchwehte den Raum und brachte den Duft von Bäumen und Pferden mit sich und die Ausdünstungen der Motoren, die der Nacht einen Missklang hinzufügten. Wenn er die Fenster schlösse, bliebe all dieser Lärm und Gestank draußen - allerdings auch der Duft von grünem Gras.
    Schließlich konnte er sich nicht länger mehr zurückhalten.
    ›Wer hat dich gerufen?‹, fragte er. Er war nicht unfreundlich.
    Nein, er schien sich eher eine kindhafte Offenheit überzustrei-fen, doch zeigte er eindeutig eine zu ruhige Haltung, als dass das nicht aufgesetzt gewirkt hätte.
    ›Wer hat dich aus den Gebeinen hervorgezaubert? Du musst es mir einfach sagen! Ich bin jetzt der Gebieter.‹
    ›Lass diese alberne Taktik‹, antwortete ich. ›Es ist ein Leichtes für mich, dich zu töten. Es wäre nur zu einfach.‹ Ich hatte nicht das Gefühl, dass der Widerstand ihm gegenüber mich in irgendeiner Weise schwächte.
    Was, wenn die ganze Welt nun über mich herrschte, jeder einzelne Mensch? Ein gleißendes Feuer erschien vor meinen Augen, kein weltliches Feuer, nein, ein Feuer der Götter. Die Gebeine in der Truhe, die ich immer noch hielt, fühlten sich schwer an. Verlangten sie danach, dass ich sie ansah? Ich betrachtete die alte, abgestoßene Truhe. Meine Kleidung war beschmutzt von ihr. Aber es machte mir nichts aus.
    ›Kann ich die Truhe absetzen?‹, fragte ich. ›Hier, direkt neben deiner Zeitung auf dem Tisch? Neben deiner Kaffeeschale, neben dem Bild deiner toten Tochter, die so hübsch aussieht, so ganz unverschleiert.‹
    Er nickte mit leicht geöffneten Lippen, strengte sich an, ruhig zu bleiben, nachzudenken, obwohl er zu aufgekratzt war, um überhaupt irgendetwas geordnet anzugehen.
    Ich stellte die Truhe ab. Ein Schauer tiefster Gefühle durchlief mich, hervorgerufen durch die unmittelbare Nähe der Gebeine und durch den Gedanken, dass das meine Knochen waren und dass ich tot und ein Geist war und dass ich der Erde wie-dergegeben war, sie unter meinen Füßen spürte.
    Mein Gott, raffe mich nicht dahin, ehe ich dies alles verstanden habe.
    Gregory trat näher, doch ich wartete nicht ab, sondern hob, wie er selbst zuvor, kühn den zerbrechlichen Deckel von der Truhe und legte ihn auf den großen Tisch, wobei ich die Zeitung ein wenig zerknitterte. Ich starrte auf die Gebeine.
    Sie waren golden und schimmernd wie am Tage meines Todes. Doch wann war das gewesen?
    ›Der Tag meines Todes!‹, hauchte ich. ›Werde ich nun alles herausfinden? Ist das ein Teil des Plans, Teil meiner Bestimmung?‹
    Wieder kam mir Esthers Mutter in den Sinn, die Frau in den roten Seidengewändern. Ich fühlte ihre Gegenwart unter diesem Dach. Sie hatte mich gesehen, und ich versuchte mir vorzustellen, wie ich für sie ausgesehen hatte. Ich wünschte, sie käme jetzt herein oder ich fände eine Möglichkeit, zu ihr zu gehen.
    ›Was sagst du?‹, drängte Gregory. ›Der Tag deines Todes?
    Wann war das, sag's mir. Wer hat dich zu diesem Geist gemacht? Und was meinst du mit Bestimmung, Plan?‹
    ›Ich weiß die Antwort selbst nicht. Ich würde mich mit dir nicht herumplagen, wenn ich sie kennte. Als der Rabbi jene Inschriften übersetzt hat, hast du von ihm mehr erfahren, als ich selbst wusste.‹
    ›Nicht mit mir herumplagen!‹, ereiferte er sich. ›Herumplagen!
    Mit mir! Siehst du denn nicht, dass, wenn es einen Plan gibt -
    einen Plan, der mein Konzept noch weit übertrifft -, dass du dann ein Teil davon bist?‹
    Es erfreute mich doch sehr, ihn so erregt zu sehen. Es er-frischte mich, ohne jeden Zweifel. Seine dünnen Augenbrauen hoben sich ein wenig, dabei bemerkte ich, dass nicht nur die Tiefe seiner Augen ihren Reiz ausmachte, sondern auch der lang gezogene Schnitt. Bei mir waren alle Konturen eher rund, die Linien seines Gesichts waren gestreckt und scharf.
    ›Wann bist du das erste Mal aufgetaucht? Wieso konnte Esther dich sehen?‹
    ›Wenn ich ausgesandt wurde, sie zu retten, habe ich versagt.
    Aber warum hast du sie als »Das Lamm« bezeichnet? Warum hast du diese Worte benutzt? Und was sind das für Feinde, von denen du sprichst?‹
    ›Das wirst du noch früh genug erfahren. Wir sind alle von Feinden umgeben. Wir brauchen nur ein bisschen Macht zu demonstrieren, den Plänen in die Quere zu kommen, die sie mit der

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