Engel der Verdammten
äußerte ich das nicht laut. Doch als ich zu dem mächtigen Marduk aufsah, zu dieser goldenen Statue, in der der erhabene Gott lebte und herrschte, und in der er jedes Jahr in der Neujahrsprozession durch die Stadt hätte getragen werden sollen, da lächelte das Standbild.
Ich war zu pfiffig, um davon den Priestern etwas zu sagen. Wir waren dabei, das innere Heiligtum für die Frau vorzubereiten, die die Nacht mit dem Gott verbringen sollte. Doch die Priester bemerkten etwas. Sie sahen, dass ich Marduk ansah, und einer von ihnen fragte: ›Was hast du gesagt?‹ Ich hatte natürlich nichts gesagt. Aber Marduk hatte gesprochen: ›Nun, was hältst du von meinem Heim, Asrael? Ich war schon so oft in dem deinen!‹
Von diesem Augenblick an ahnten die Priester etwas. Und doch hätte noch alles anders kommen können. Ich hätte ein langes irdisches Leben führen können, ich hätte einen anderen Weg einschlagen können. Hätte Söhne, Töchter haben können. Wer weiß?
Damals fand ich es erheiternd und wunderbar und liebte Marduk wegen dieses kleinen Tricks. Wir fuhren dann fort, dieses wahrhaftig prächtig mit Blattgold geschmückte Gemach und das seidenbespannte Bett herzurichten, auf dem die Frau den Gott in der Nacht erwarten würde, damit er sie nehme. Als wir dann gingen, sagte einer der Priester: ›Der Gott hat dir zugelächelt!‹ Ich erstarrte vor Furcht und wollte lieber nicht darauf antworten.
Reiche hebräische Geiseln oder Deportierte wie wir wurden in Babylon sehr gut behandelt, wie ich schon sagte, doch ich mochte wahrhaftig nicht mit den Priestern sprechen, als ob sie auch Hebräer wären. Sie waren die Priester eines Gottes, den anzubeten uns verboten war. Außerdem traute ich ihnen nicht, und sie waren gar zu viele; einige waren ziemlich dumm und andere sehr hinterhältig und schlau. So sagte ich schließlich einfach, dass ich das Lächeln auch gesehen und für einen Sonnenstrahl gehalten hätte. Der Priester bebte.
Seit ewigen Zeiten habe ich nicht mehr daran gedacht. Ich weiß nicht, warum es mir gerade jetzt einfällt, es sei denn, weil man sagen könnte, dass jener Augenblick mein Schicksal vielleicht besiegelt hat. Und von da an sprach Marduk ständig mit mir. Ob ich in den Kammern mit den Tontafeln war, wo ich eifrig arbeitete, du weißt schon, die sumerischen Texte, die wir besaßen, studierte, damit ich sie abschreiben, lesen und sogar sprechen konnte - obwohl zu der Zeit schon kein Mensch mehr Sumerisch sprach. Oh, ich erfuhr erst neulich - in diesem 20. Jahrhundert - etwas Komisches, das muss ich dir erzählen. Es war in New York, nachdem diese Gregory-Belkin-Sache schon längst vorbei war. Ich wanderte durch die Stra-
ßen und versuchte, das Aussehen verschiedener Männer anzunehmen, doch mein Körper verwandelte sich immer wieder ohne mein Zutun zurück. Da hörte ich diese witzige Sache ...«
»Was?«, fragte ich sofort.
»Dass bis zur heutigen Zeit keiner weiß, woher die Sumerer kamen! Bis auf diesen Tag nicht! Sie scheinen aus dem Nichts gekommen zu sein, diese Sumerer, samt ihrer Sprache, die sich von allen Sprachen ringsum so sehr unterschied; und sie bauten die ersten Städte in unseren wunderschönen Tälern.
Und mehr weiß kein Mensch über sie, bis heute nicht.«
»Das ist richtig. Aber wusstet ihr es denn damals?«
»Nein«, antwortete er, »wir wussten nur, was auf den Tontafeln stand, nämlich, dass Marduk Menschen aus Lehm geformt und ihnen Leben eingehaucht hatte. Mehr nicht. Aber zweitausend Jahre später festzustellen, dass auch ihr keine langatmigen historischen oder archäologischen Berichte über die Sumerer besitzt - nicht wisst, wie ihre Sprache sich entwik-kelte, wieso sie in dieses Tal einwanderten und all das - das finde ich einfach komisch.«
»Na, ist dir denn nicht aufgefallen, dass auch niemand weiß, woher die Juden kommen?«, fragte ich. »Oder willst du mir erzählen, dass du damals in Babylon, als du noch ein Junge warst, ganz genau wusstest, dass Abraham in der Stadt Ur von Gott gerufen wurde und dass Jakob tatsächlich mit dem Engel rang?«
Asrael lachte und zuckte die Schultern. »Es gab so viele Versionen der Geschichte! Wenn du wüsstest! Aber natürlich kämpften die Menschen damals dauernd mit irgendwelchen Engeln. Das war gar keine Frage! Aber was steht denn heute in eurer Heiligen Schrift? Nur klägliche Überreste jener Geschichten! Die ganze Geschichte, in der Jahwe den Leviathan niederringt, ist einfach weg, verschwunden! Dabei habe
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