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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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königlicher Ausstrahlung zu geben schien, dass ich stumm blieb. Ich schob einen weiteren dicken Klotz ins Feuer und schüttete noch etwas Kohle nach, alles, ohne die geheiligte Sicherheit meines alten, wackligen, verknautschten Sessels zu verlassen.
    Dann, endlich, schaute ich ihn an. Er blickte gedankenverloren vor sich hin, und erst jetzt, in diesem Moment, wurde mir klar, dass er sang, ganz leise sang, so leise, dass ich mich anstrengen musste, das Geräusch über das zarte, verzehrende Zischeln des Feuers hinweg zu hören.
    Er sang hebräisch, nicht das Hebräisch, das mir geläufig war, doch immerhin verstand ich genug, um zu erkennen, was er sang: Es war der Psalm »An den Wassern von Babylon«. Das rüttelte mich stärker auf als alles, was vorausgegangen war, und als er endete, war ich ehrfürchtig ergriffen.
    Mir ging durch den Sinn, ob es jetzt wohl in Polen schneite, ob meine Eltern begraben oder verbrannt worden waren, und ich fragte mich, ob er die Asche meiner Eltern zu beschwören vermochte, doch schien mir das ein scheußlicher, lästerlicher Gedanke.
    »Das war der Kern meiner Worte, dass es nämlich Dinge gibt, die uns abergläubische Scheu einflößen«, sagte er, diesen Gedanken aufgreifend. »Als ich mich so ungeschickt nach deinen Eltern erkundigte, habe ich erklären wollen, dass man an bestimmte Dinge glaubt, ohne sie doch wirklich zu glauben.
    Man hat eine zwiespältige Haltung dazu.«
    Ich sann darüber nach.
    Er sah mich direkt an, Achtung und Ehrlichkeit im Blick; und obwohl er die Stirn runzelte, lag doch ein Lächeln auf seinem engelhaften Mund. »Ich kann sie übrigens nicht zum Leben erwecken. Das kann ich nicht!«, sagte er.
    Er wandte seinen Blick wieder den Flammen zu.
    »Gregory Belkins Eltern kamen im Holocaust um«, sagte er.
    »Gregory Belkin wurde wahnsinnig. Und sein Bruder wurde ein frommer Mann, ein Heiliger, ein Zaddik. Und aus dir wurde ein Gelehrter und ein Lehrer, mit der anrührenden Gabe, die Studenten Einsicht zu lehren.«
    »Du ehrst mich«, sagte ich leise. Tausend unbedeutende Fragen schwirrten mir im Kopf herum. Doch ich wollte das Besondere der Situation nicht aufs Spiel setzen.
    »Fahre fort, Asrael, bitte«, sagte ich. »Erzähle mir, was du wirklich erzählen willst. Was dein eigentliches Anliegen ist.«
    »Nun gut; wie ich schon andeutete, waren wir reiche Exilan-ten. Du kennst ja die Geschichte: Nebukadnezar überfiel Jerusalem, überwältigte das Heer, übersäte die Straßen mit Leichen und verließ die Stadt, nicht ohne eine babylonische Verwaltung über die Pächter eingesetzt zu haben, die unsere Güter und Weinberge bebauten; deren Produkte mussten sie nun an seinen Hof abliefern. Der übliche Ablauf.
    Aber die Reichen, die Händler, die Schriftgelehrten, wie es die Männer meiner Familie waren? Wir wurden nicht getötet. Wir bekamen die Klinge seines Schwertes nicht zu spüren. Wir wurden nach Babylon verschleppt - mit Sack und Pack, möch-te ich hinzufügen, mit Wagenladungen unseres feinen Mobili-ars, das er uns zu behalten gestattete, obwohl er doch den Tempel gründlichst geplündert hatte. Und er gab uns schöne Häuser, darin zu leben und Handel zu treiben und die Märkte Babylons zu beliefern, und auch dem dortigen Tempel und dem Hofe zu dienen.
    So geschah es wieder und wieder in jenem Zeitalter. Selbst die als grausam bekannten Assyrer machten es so. Die Soldaten fielen unter das Schwert, und mit sich nahm man die Leute, die drei Sprachen in Wort und Schrift beherrschten oder die wunderbare Elfenbeinschnitzereien herstellten, und so geschah es eben auch uns durch die Babylonier. Es hätte schlimmer kommen können. Stell dir nur vor, wir wären wieder nach Ägypten verschleppt worden. Stell dir das bloß vor!
    Ägypten, wo man mehr tot als lebendig war, wo man Tag und Nacht nur von Tod und Sterben sang, und es gab nichts als Dörfer und Felder.
    Nein, wir hatten es gar nicht so schlecht getroffen. Mit elf Jahren war ich schon im Tempel gewesen, als Page, wie so viele hebräische Knaben aus reichem Hause, und dort hatte ich die riesige Statue des Gottes Marduk gesehen, oben in dem hoch gelegenen Allerheiligsten auf dem Gipfel des Etemenanki. In Begleitung der Priester hatte ich schon den inneren Schrein betreten, und mir war etwas Seltsames in den Sinn gekommen: Diese Statue ähnelte mir noch stärker als die in meinem Besitz befindliche kleine, von der ich schon immer fand, dass sie eine große Ähnlichkeit mit mir hatte.
    Natürlich

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