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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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kennst das«, drängte er.
    »Altashheth!«, rief ich. »›Zerstöre nicht.‹«

    Er lächelte, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Mit zit-ternden Fingern verstaute er das Bild wieder in der Plastikhülle und legte das Päckchen auf den kleinen Fußschemel, der zwischen unseren Sesseln stand, weit genug vom Feuer entfernt, damit dessen Hitze keinen Schaden anrichten würde. Dann starrte er wieder in die Flammen.
    Meine Gefühle überwältigten mich plötzlich und machten mich stumm. Nicht nur, weil wir über meine Eltern gesprochen hatten, die in Polen von den Nazis getötet worden waren. Nicht nur, weil er mir diesen wahnsinnigen Plan Gregory Belkins wieder vor Augen geführt hatte, der seiner Verwirklichung ge-fährlich nahe gekommen war. Es lag auch nicht an Asraels Schönheit oder an der Tatsache, dass wir hier beisammensa-
    ßen, dass ich hier mit einem Geist sprach. Ich weiß nicht, was es war. Mir kam Iwan aus »Die Brüder Karamasow« in den Sinn, und ich dachte: »Das ist ein Traum; ich liege im Sterben.
    Im Zimmer häuft sich der Schnee; ich sterbe und bilde mir nur im Fieberwahn ein, mit diesem schönen jungen Mann zu reden, der mit seinem krausen schwarzen Haar aussieht wie die in Stein gemeißelten, mesopotamischen Reliefs im Britischen Museum; diese Abbildungen stattlicher Könige, nicht katzen-geschmeidig wie die Pharaonen, doch mit einer Haarpracht im Gesicht, die fast sexuell erregend wirkt, und die sich wohl genauso dicht und dunkel um ihre Hoden gelockt hatte.« Ich weiß nicht, was in dem Moment über mich kam.
    Ich schaute ihn an. Er wandte sich mir langsam zu, und einen winzigen Augenblick lang spürte ich Furcht. Zum ersten Mal.
    Es lag an der Art, wie er den Kopf drehte. Er wandte sich mir zu, offensichtlich um meine Gedanken aufzufangen, meine Gefühle zu entziffern, mein Herz zu rühren, oder wie immer man es nennen wollte. Und dann erst sah ich, dass er für mich einen kleinen Trick vollführt hatte.
    Er war anders gekleidet. Er trug jetzt eine weich fallende, in der Taille lose gegürtete Tunika aus rotem Samt und weite rote Samthosen mit weichen, leichten Samtpantoffeln.
    »Du träumst nicht, Jonathan Ben Isaak, ich bin wirklich hier.«
    Ein Funkenregen stob auf. Die Funken flogen, als habe man etwas in die Flammen geworfen.

    Ich bemerkte noch eine Veränderung an ihm. Er trug einen schweren, dichten Lippen- und Kinnbart, gelockt, ganz wie der der Könige und Soldaten auf jenen alten Steintafeln, und ich sah, warum Gott ihn mit diesem großen, engelsgleichen Mund versehen hatte, denn der war nun trotz dieser Haarfülle noch sichtbar, ein ansprechender Mund, ein Mund, den die Natur entworfen hatte, als die Lippen noch mit dem Gesichtshaar um den alles beherrschenden Gesichtsausdruck wetteiferten.
    Er stutzte. Er griff sich ins Gesicht, berührte den Bart, und runzelte dann ärgerlich die Stirn. »Das hätte eigentlich nicht passieren sollen. Ich schätze, ich gebe es auf. Der Bart will ganz einfach da sein.«
    »Der Herrgott will, dass du ihn trägst?«, fragte ich.
    »Das wohl nicht. Ich habe keine Ahnung!«
    »Wie hast du das gemacht, dass deine Kleidung sich verändert? Wie machst du das, wenn du einfach verschwindest?«
    »Das ist keine große Kunst. Eines fernen Tages wird die Wissenschaft auch das beherrschen, so wie sie heute alles über Atome und Neutrinos weiß. Ich habe nichts anderes getan, als all die kleinen Partikel, winziger als Atome noch, abzuwerfen, die ich zuvor durch eine Art magnetischer Anziehungskraft um mich geschart hatte, um die vorherige Kleidung zu schaffen.
    Es war keine reale Kleidung. Ein Geist hatte sie gemacht. Und dann, um sie abzuwerfen, sprach ich, was ein Zaubermeister sagen würde: ›Fort mit dir, bis ich dich wieder herbeirufe!‹ Und dann zauberte ich andere Kleidung herbei. Ich sprach tief in meinem Inneren mit der beschwörenden Kraft des Zaubermeisters: ›Kleinste Teilchen, winziger als Sandkörner, von den Lebenden oder den Toten, von roher Erde oder ge-schmiedet, verfeinert oder gewebt, und hoch geschätzt, be-gebt euch zu mir, unbemerkt und lautlos, in Windeseile und unsichtbar, durchdringt, niemandem zu Schaden, jegliche Schranke, und kleidet mich in roten Samt, in weiche Stoffe von der Farbe des Rubins. Seht, was vor meinem geistigen Auge steht; kommt her!‹«
    Er seufzte. »Und so geschah es.«
    Er saß einen Moment ganz still. Ich war so fasziniert von dieser roten Tracht, die ihn irgendwie zu verändern, ihm eine Art

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