Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
ich sie aber- und abermals abgeschrieben! Aber ich greife jetzt vor.
    Ich möchte lieber alles der Reihe nach erzählen. Nein, es überrascht mich nicht, dass niemand den Ursprung der Juden kennt. Denn selbst zu meiner Zeit gab es schon zu viele verschiedene Berichte darüber ...
    Lass mich dir lieber von meinem Heim, meiner Familie erzählen. Wir wohnten in dem reichen hebräischen Viertel der Stadt.
    Ich habe dir ja schon erklärt, welcher Art unser Exil war. Man erwartete von uns, vornehme Bürger zu sein in einer Stadt, die von Menschen aller möglichen Nationalitäten nur so wimmelte.
    Zwarwaren wir Beute, aber frei, zu wachsen und uns zu vermehren und Wohlstand zu erwerben. Du kannst dir ausrechnen, dass, als ich jung war, Nebukadnezar schon nicht mehr lebte; unser Herrscher war Nabonidus, der aber nicht in der Stadt lebte. Und alle Leute hassten ihn, hassten ihn einfach nur.
    Man hielt ihn für wahnsinnig, für besessen. So steht es auch im Buch Daniel, obwohl er dort nicht mit diesem Namen bezeichnet wird. Und ehrlich, unsere Propheten ließen wirklich nichts unversucht, ihn in den Wahnsinn zu treiben, indem sie weissagten, dass er uns ziehen lassen müsse. Aber weit kamen sie bei ihm damit nicht. Nabonidus wurde durch seine ureigensten Gedankengänge umgetrieben. Er war einerseits ein Gelehrter, ein Forschender, und fest entschlossen, Babylons Ruhm zu mehren, ja. Doch andererseits hatte er eine verrückte Vorliebe für den Gott Sin. Nun, Babylon war Marduks Stadt! Natürlich gab es jede Menge anderer Altäre und An-betungsstätten, selbst innerhalb von Marduks Tempel, aber dennoch, musste der König nun unbedingt verrückt nach einem anderen Gott sein? Und dann auch noch für zehn Jahre -
    zehn! - in die Wüste zu verschwinden und Belsazar als Regenten in Babylon einzusetzen! Nun, das machte Nabonidus nur allenthalben noch verhasster; denn während der ganzen Zeit, die Nabonidus nicht in der Stadt weilte, konnte das Neujahrsfest nicht abgehalten werden, dabei war es doch das größte und gewichtigste Fest in Babylon überhaupt - das Fest, an dem Marduk die Hand des Königs ergriff und mit ihm durch die Straßen schritt. Ohne König gab es natürlich auch keinen Festumzug. Und zu der Zeit, als ich begann, ernsthaft im Tempel und im Palast zu arbeiten, hegten die Priester Marduks und auch viele Einwohner der Stadt tiefste Verachtung für Nabonidus. Um ehrlich zu sein, ich habe Nabonidus' Geheimnis nie so ganz herausgefunden. Wenn man ihn heraufbeschwören könnte, so wie die Hexe von Endor den Propheten Samuel aus seinem Totenschlaf aufstörte und ihn erscheinen ließ - du weißt schon, damit König Saul mit ihm sprechen konnte - ... wenn wir Nabonidus erscheinen lassen könnten, vielleicht erführen wir ein paar seltsame Dinge. Aber es ist jetzt nicht meine Aufgabe, Totenbeschwörer, Hexenmeister zu werden, sondern ich sehe sie darin, endlich die Stufen zum Himmel zu finden. Ich will nichts mehr zu tun haben mit dem Nebel und Dunst, in dem die verloren dahintreibenden Seelen flehentlich darum bitten, dass ihr Name gerufen wird.
    Und außerdem, vielleicht hat Nabonidus den Schritt ins Licht getan, vielleicht hat er die Stufen erklommen. Er hat sein Leben nicht mit Ausschweifungen und Grausamkeiten vertan, sondern in Hingabe an einen Gott, auch wenn es nicht der Gott seiner Stadt war.
    Ich habe Nabonidus nur einmal gesehen, während der letzten Tage meines Lebens; natürlich war er in die Intrige verwickelt.
    Auf mich wirkte er damals schon wie tot, er zeigte eine glückselige Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber - ein König, dessen Zeit vorbei war. Damals, in jener Nacht, als ich ihm begegnete, wollte er nur eins, die Plünderung Babylons verhindern, wie jeder in der Stadt, und dadurch verspielte ich meine Seele.
    Doch zu diesem grässlichen Teil meiner Geschichte kommen wir noch früh genug.
    Ich sprach über die Zeit, als ich noch ein lebender Mensch war. Nabonidus war mir völlig gleichgültig. Wir lebten also in dem reichen hebräischen Viertel mit den wunderschönen Anwesen, deren Wände bis zu 180 cm dick waren. Das muss für euch heute verrückt klingen, aber du glaubst gar nicht, wie wirkungsvoll dadurch die Hitze ausgeschlossen wurde. Die Häuser waren weitläufig, mit vielen Vorhallen und großen Speiseräumen, und alle Zimmer waren um einen riesigen Innenhof herum gebaut. Das Haus meines Vaters hatte vier Stockwerke, und die holzgetäfelten Räume waren bevölkert mit ältlichen Tanten und

Weitere Kostenlose Bücher