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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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erzählte und über seine Späße lachte.
    Wir hatten auch Propheten in unseren eigenen Reihen, die manchmal auf diesen Zusammenkünften sprachen, zum Teil lärmend und voller Pathos; doch ihre Bücher sind heute ver-schollen. Bei ihren Vorträgen wiesen sie oft mit dem Finger auf mich und sagten, dass ich Gnade vor den Augen Jahwes gefunden hätte, obwohl niemand genau wusste, was das bedeuten sollte. Ich schätze, sie alle ahnten irgendwie, dass ich hellsichtiger war als andere, dass ich ins Innerste der Menschen sehen konnte wie ein Zaddik, ein Heiliger; aber ich war kein Heiliger, nur ein ungebärdiger junger Mann.«
    Er hielt inne. Die Deutlichkeit seiner Erinnerungen schien ihn zu bannen und eine Kluft zwischen uns zu bilden.
    »Du hattest ein glückliches Naturell«, sagte ich. »Die Natur hatte dich damit ausgestattet.«
    »O ja, das wusste ich, und das wussten auch meine Freunde.
    Sie neckten mich häufig, ich sei schon übermäßig vom Glück gesegnet. Nichts schien mir je besonders schwierig. Nichts schien mir dunkel, bedrohlich! Das Dunkle überfiel mich erst nach meinem Tode, und am schlimmsten war es unmittelbar vor meinem Tod, und vielleicht... vielleicht auch jetzt. Doch dieses Dunkel! Es zu akzeptieren, das ist, als versuche man, die Sterne zu zählen. Was sagte ich gerade? Dass ich alles so einfach fand, dass ich fast alles genoss. Zum Beispiel musste ich für eine gründliche Ausbildung in den Kammern mit den Tontafeln arbeiten - ihr würdet das vielleicht heute Bibliothek nennen. Ich sollte eine echte babylonische Erziehung bekommen. Das war nur klug, denn es war förderlich für meine Zukunft, sowohl für den Handel als auch, wenn ich ein Gelehrter würde. Und die Lehrer züchtigten uns mit dem Stock, wenn wir zu spät kamen oder unsere Lektion nicht gründlich gelernt hatten. Doch mir erschien das alles normalerweise recht einfach. Ich liebte das alte Sumerisch, ich liebte es, das ganze Gilgamesch-Epos abzuschreiben, dieses ›Am Anfang war ...‹, und ich kopierte diese Aufzeichnungen gern, von denen dann Abschriften in andere babylonische Städte gesandt wurden.
    Ich konnte mehr oder weniger Sumerisch sprechen. Ich könnte mich noch immer hinsetzen und mein Leben in sumerischer Sprache für dich niederschreiben.« Er brach abermals ab.
    »Nein, das kann ich nicht. Wenn ich es über mich brächte, mein Leben selbst aufzuzeichnen, wäre ich nicht in diese ver-schneiten Berge hinaufgeklettert, um dir die Aufgabe zu übertragen ... ich kann's nicht... kann es nicht... in keiner Sprache.
    Nur Sprechen lässt den Schmerz frei hervorströmen ...«
    »Ich verstehe, was du meinst. Und ich bin hier, um dir zuzuhö-
    ren. Worauf du Nachdruck legen wolltest, ist, dass du Sumerisch kannst, sowohl lesen als auch übersetzen.«
    »Ja, ja, ja, und Akkadisch, die Sprache, die danach gebraucht worden war, und Persisch, mit dem wir uns alle langsam an-freunden mussten, und Griechisch - das konnte ich gut lesen -
    und Aramäisch, das im täglichen Leben nach und nach an die Stelle des Hebräischen trat, aber ich konnte das Hebräische auch schreiben.
    Ich machte meine Aufgaben. Ich schrieb schnell. Ich stupste den Griffel auf eine Art in den Ton, die jeden zum Lachen brachte. Aber ich hatte eine gute Schrift. Wirklich gut. Und ich fand es toll, aufzustehen und laut vorzulesen. Immer, wenn der Lehrer krank wurde oder aus dem Zimmer gerufen wurde oder dringend seine Medizin - uns auch als Bier bekannt -
    brauchte, stand ich auf und las den anderen aus dem Gilgamesch-Epos vor, in ganz übertriebenem Stil, sodass alle lachten.
    Du kennst die Sage natürlich. Und sie ist wichtig für diese Geschichte, so albern und widersinnig sie auch klingt. Da ist also dieser König Gilgamesch, der außer Rand und Band durch seine Stadt läuft - auf einigen Tontafeln ist er als Riese darge-stellt, auf anderen als normaler Mann. Er rast umher wie ein wilder Stier. Er lässt fortwährend die Trommeln schlagen. Das beunruhigt sein Volk natürlich sehr, denn eigentlich wurden die Trommeln nur aus bestimmten Anlässen geschlagen - um die Geister zu erschrecken oder um zu Eheschließungen zu rufen, du weißt schon.
    Okay, da stört also dieser Gilgamesch die Stadt Uruk auf. Und was tun die Götter, diese sumerischen Götter, die ebenso klug sind wie eine Herde Wasserbüffel? Sie machen ein Ebenbild Gilgameschs, Engidu, einen wilden Mann, der über und über mit Haaren bedeckt ist. Er lebt in den Wäldern, und er trinkt gern an der

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